Erinnern fängt mit damals an!
Not dressed
Juli 1969
Der Mercedes Benz von Vater steuert die Grafschaft Oxfordshire an; so kommt es mir jedenfalls vor, denn auf
jeder Autofahrt wird Vater zum Zentaur, der mit der Maschine verschmilzt, allerdings wird er auch unsichtbar.
Die Eltern wollen mich, die 17-jährige Tochter für einen Monat zum Anwesen
eines pensionierten Majors bringen.
Dessen um etliche Jahre
jüngere Frau- so der Prospekt- nimmt Sprachschüler aus dem Ausland auf und bildet sie in der englischen Sprache weiter .
Nach langer Autofahrt und Fährüberfahrt von Calais nach Dover haben Eltern,
jüngerer Bruder und ich ( ich weniger) Hunger auf eine warme Mahlzeit.
Zerstreut blättere ich in Musikzeitschriften und freue mich in eine Gegend unweit von Swinging London zu kommen,
wo ich den Musiker-Idolen nahe bin, deren
Musik ich vielleicht in einem Gig direkt und pur erleben kann. Seien es die Stones, die Kinks oder andere.
Diese Tag-Träume nähren mich und so bekomme ich kaum mit, dass Vater einen Kiesweg
entlang fährt, der in einem Parkplatz vor einem malerischen Landhaus mündet.
Hier befindet sich ein Restaurant, im Guide Michelin empfohlen, was die Eltern
als angemessen für die letzte Mahlzeit mit ihrer Tochter ansehen.
Mutter scheitelt und frisiert den 13-jährigen Bruder, der sich das kaum noch
gefallen lassen will, zumal sie es auf die Art macht, wie das damals so üblich war: Es wurde blitzschnell kurz auf den Kamm gespuckt, um den Scheitel schön geschmeidig ziehen zu können. Anschliessend schminkt und parfümiert sie sich, dann schreitet
sie hinter Vater her, der uns die Tür zum Landhaus aufhält.
Wir betreten Räume mit hölzerner Decke und hohen Lehnstühlen, sofort
kommt ein dienstbeflissener Ober auf uns zu und begrüßt uns , etwas maniriert, wie ich finde.
Aber ich bin eh nicht so ganz bei der Sache.
Er mustert uns vom Scheitel bis zur Sohle und sagt dann: „You are okay,
but the young man can not enter!“
Vater hatte in der Schule an einem humanistischen Gymnasium Griechisch
und Latein, Mutter Französisch. Aufs Englische verstehen beide sich nicht besonders.
Aber die Kernaussage, dass an dem Sohn etwas unpassend ist, haben Sie verstanden.
„Why he can not enter?“ dieser Satz gelingt meiner Mutter.
Der Ober schaut ein wenig arrogant auf sie herab, sagt dann:
„He is not dressed.“
Jaja, England war schon immer ganz stark eine Klassen-Gesellschaft,
auf der einen Seite schossen zu jener Zeit immer mehr Beat-Bands wie Pilze aus dem
Boden, deren Mannen man hier auch wohl nicht eingelassen hätte! Auf der anderen Seite gab
es damals schon solche Lokale mit Etikette, wo man an weißen Shorts auch noch
bei 30 Grad im Schatten Anstoß nahm.
Vater , der die Botschaft sofort verstanden hat, wendet sich zum Gehen, doch
Mutter will das Terrain noch nicht verlassen, es duftet auch so verführerisch aus
der Kitchen.
„Why not dressed?“ sagt sie „he is dressed in shirt and skirt!“
Nun wird mein Bruderherz rot, rot bis zu den Ohren. Gab es damals schon so etwas
wie Fremdschämen. Hätte Mutter nicht etwas Englisch lernen können, „skirt“
heißt doch Röckchen und er trägt zum kurzärmligen Pepita-Hemd weiße Shorts.
Doch es nützt alles nichts, das beste Verhandlungsgeschick nicht, auch kein ans
Herz gehendes, radebrechendes Englisch, man läßt uns nicht ein! Schließlich finden wir ein anderes akzeptables
Lokal, danach lande ich wohlbehalten in Oxfordshire, wo ich einige anregende Wochen verbringen werde.
Dass die Eltern mir dann für den Rückweg bereits ein Flugticket von London nach
Düsseldorf organisiert haben, finde ich mehr als erleichternd.
……………………………………………………………….
Reminiszensen an eine England -Reise im Juli 1969 von Renate Rave-Schneider,
notiert am 15.07.2018
Ein Gedanke zu „Erinnern fängt mit damals an: Not dressed!“
Schöne Geschichten. 5-Sterne vergab der Michelin allerdings auch damals nicht – und selbst wenn, hätte es die sicher nicht gerade auf der Insel gegeben. Grüße, Wolfgang