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Rezension von Renate Rave-Schneider zu: HANEEN AL-SAYEGH DAS UNSICHTBARE BAND

Veröffentlicht

Rezension von Renate Rave-Schneider am Sonntag, dem 7.04.2024 ,
10.00 Uhr zu:

HANEEN AL-SAYEGH
DAS UNSICHTBARE BAND

Roman DTV, deutsche Ausgabe 2024 DTV München,
arabische Originalausgabe 2023, 335 Seiten
ISBN 978-3-423-28398-4

Bei diesem Buch handelt es sich um den Debüt-Roman der Autorin, der sehr
ausführlich das Schicksal einer arabischen Frau in der ultrastrengen
Religionsgemeinschaft der Drusen in den Bergen des Libanon beschreibt.
Eine 15-Jährige, die vom strenggläubigen Vater bestimmt, in einer
arrangierten Ehe mit einem Kaufmann leben muss, die es immerhin schafft,
ein Studium ihrer Wahl an der Beiruter Universität trotz äußerst widriger
Umstände durchzuziehen, schildert erbarmungslos ihr tristes Ehe-und
Studienleben , das sie in tiefe Depressionen fallen lässt, bis sie irgendwann
nach Geburt einer Tochter, der Liebe ihres Lebens, dem Seelengefährten
schlechthin, begegnet. Unter anderem musste sie zwei unselige, ergebnislose
Befruchtungsversuche über sich ergehen lassen, bis sie – wie durch ein
Wunder – schließlich doch noch ihre Tochter Rahma gebar.

Ist ein Roman gut, wenn man schon während der Lektüre oftmals überlegt,
mit welcher Bücherfreundin man darüber diskutieren kann?
Über die philosophischen, religiösen und psychologischen Aspekte, die die
Autorin schildert!

All jenen, denen ich davon erzählte und die Lektüre empfehlen konnte,
meinten, es würde sich für sie so anhören wie das Buch „Nicht ohne meine
Tochter“, doch ich entdeckte große Unterschiede, schon deshalb, weil es sich
hier bei der Protagonistin um eine arabische Frau aus der
Religionsgemeinschaft der Drusen handelt, die schnell jeglichen Glauben
verlor.

Inhaltlich hätte das Buch kürzer gefasst werden können, mir hätten 50 bis 70
Seiten weniger durchaus gereicht, weil gerade die endlos wirkende Zeit der
Befruchtungsversuche und dieser öden Ehe mit dem Kaufmann Salem einige
zähe Passagen enthielt.
Der Leser erfährt viel über die Religionskultur der Drusen, über die
Monotonie der Ehe und über die Studienbedingungen an der Beiruter Uni,
das hätte meines Erachtens kürzer gefasst werden können.
Es schwingt die ganze Zeit so eine melancholischer, ja sogar deprimierender
Unterton mit.
Und das, obwohl die Autorin gekonnt wechselt zwischen
Dokumentationsprosa und poetischen Sprachbildern, wobei mir nicht alle
Metaphern und Bilder zusagen.

Mir ist aufgefallen, dass das Buch seit der Begegnung mit Ahmed Fahrt
aufnimmt und auch der Sprachstil lebendiger, schöner wird, so als wäre die
Autorin auch sprachlich erwacht und neu geboren.
Allerdings befremdet mich die Schilderung der psychischen Zustände ihrer
Schwester Nermin sehr, ich empfinde es als sehr „strange“ und schwer
nachvollziehbar., siehe S. 288 mittig und folgendes.
Nach der Begegnung mit Ahmed gibt es viele passende Bilder vom Gelben
Fluss, dem Horizont, S. 258 und zuvor auf Seite 230 schöne Vergleiche mit
Feelings und den Vergleich mit einer Wolke, die sich mit dem Meer verbindet.
Im Austausch mit der Tochter Rahma in Briefen finde ich, dass dieser
Zwölfjährigen schon eine Menge an Verständnis und Abstraktionskraft
zugemutet wird, das zeigt sich im Abschlussbrief. Fakt ist ja, wenn auch aus
verständlichen Gründen, dass die Protagonistin ihre Tochter zwei Mal
verlassen hat, einmal nach der Scheidung mit sieben, dann mit 12, was
meines Erachtens auch noch sehr dramatisch für das Mädchen war. Ich sehe
da eine Kluft zwischen tiefer Einfühlung und Handeln. Etwas, wenn sie Mitte
der Seite 272 schreibt : „Scharfe Gegenstände sollen nicht in Reichweite von
Kindern gelangen!“, das meint sie ja im übertragenen Sinne, aber die Schärfe
ist ja schon da, durch sie gesetzt.

Die Briefe an Rahma und auch die Beschreibung der Tochter sind getränkt von
Poesie und Philosophie, Lebensphilosophie, jedoch nicht immer brauchbar.
Die Umschreibung , dass die Tochter eine stille Frau ist, in deren Kopf Rehe
spazieren gehen, halte ich für überzogen und abstrus. Trotz all dieser
Kritikpunkte vermag das Buch zu fesseln, weil es nämlich schlussendlich doch
vermittelt, dass das Leben auch nach einem so schwierigen Ehe-Dasein noch
sehr schöne und erfüllende Begegnungen, die hier ja sogar in einer neuen Ehe
münden, bereit halten kann und dass es etwas Meta-Physisches gibt, was
über allem steht.

Renate Rave-Schneider, copyright.

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