Januar 1966: Der Scheißkerl Januar mit seiner Rattenkälte und den
zugigen Schlafsälen im Internat St. Angela in Osnabrück.
Triste , dunkle Wintersonntage, an denen die Teens abends vom
Wochenendbesuch in ihren Heimatorten anreisen!
Lustlos trudeln sie so nach und nach wieder ein,
Stunden in verrauchten Zugabteilen zwischen angesäuselten
Bundeswehrsoldaten mit stierem Blick liegen hinter ihnen.
Voller Ekel und Abscheu sind sie
erneut vierzehn Tage bis zur nächsten
Heimfahrt hinter hohen Klostermauern verbringen und sich
zähneknirschend dem Diktat der Nonnen beugen zu müssen.
Die ein oder andere beschließt noch in diesem Jahr etwas daran
zu ändern, die Eltern zu zwingen ein anderes Gymnasium zu finden
oder sich in einer fremden Stadt durchzuschlagen.
Aber wo willst Du hin mit dreizehn, mit vierzehn, ohne von der
Polizei aufgegriffen zu werden ?
Da kommt für die Mädels, die eigentlich nur am Best-Club und
gelegentlichen Kinobesuchen Freude haben, eine Schallplatte
ganz gelegen, die eine der wenigen netten Nonnen eines Abends
bei Kerzenschein vorstellt und die das Hadern mit Gott und der
Welt und der Kasernierung im Internat erträglicher macht.
Es ist die Scheibe „Hallelujah“, Spirituals von Knut Kiesewetter
sind es, zum Glück auf deutsch gesungen.
Die Nadel des Plattenspielers wird aufgesetzt, es knistert , dann
hebt eine Orgel an und inbrünstig intoniert der junge Sänger
und Posaunist Kiesewetter:
„Irgendwann fängt mein Leben an, so wie der große Strom, der
irgendwo beginnt und dann im Meer verrinnt, irgendwann im
Abendschein wird mein Weg zu Ende sein!“
Dieses sich auflösen, im Meer verrinnen, in ein warmes Bad ein-
tauchen- am besten für immer- hat etwas enorm Tröstliches …Trost
durch die im Lied enthaltenen Fragen nach dem Lebenssinn
und der Quintessenz, dass das Leben kein Ponyhof ist.
Einige der Mädels nehmen den Inhalt der Spirituals auf wie Morgen-
tau, eine von ihnen wie ein Schwamm. Die richtige Schallplatte
zur richtigen Zeit ist das, das Kontrastprogramm zu Frank Sinatra,
zu den Stones, den Beatles, zu Spencer Davis, die zwar allerlei
bewirkten, aber die Frage nach dem Weg durchs Leben auch
nicht beantworten können. Oder etwa doch?
Zwei oder waren es drei Jahre später kam die Singel der Beatles „All you need is love“ auf den Markt und mit dieser Aussage über Liebe, über die allumfassende bedingungslose Liebe haben sie dann doch Entscheidendes über den Lebensweg und Lebenssinn ausgesagt, nachdem sie selber ausgiebig in Retreat und zu indischen Gurus gereist waren.
Das aber konnte die Vierzehnjährige noch nicht vorher sehen.
Deshalb:
Alles zu seiner Zeit und alles je nach Stimmung. Und da gibt es
eine Vierzehnjährige, ein Freitagskind, ein November – Kind, eine
Grüblernatur, die fühlt sich mit diesem Kiesewetter doch sehr
stimmungsverwandt, kauft sich von ihrem Taschengeld
die Schallplatte und notiert in einem Vokabelheft für sie stimmige
Sätze aus dem Song „Mutterloses Kind“,( man könnte auch ergänzen
„Vaterloses Kind“.)
„Oft fühl ich mich wie ein mutterloses Kind, oft fühl ich mich wie
ein Quell, der im grauen Sand verrinnt!“ Sie macht sich Gedanken
zum anschließend gesprochenen Dialog.
Auch wenn die Grundbedürfnisse des Menschen erfüllt sind,
fühlt er sich einsam; diese Einsamkeit muss er lernen auszuhalten,
dann wirkt sie wie eine Läuterung, man wird stärker und reift schließlich
daran. Man wird allein und nackt in die Welt geworfen und verlässt sie
allein, wer sich dieser Tatsache stellt und darum weiß, kann dennoch
ein heiteres, freudvolles Leben haben.
Danach kann die Vierzehnjährige auch durchaus lachen, rumhüpfen, auf dem Klosterteich
rudern, verrückte Sachen machen.
Aber am nächsten „geistlichen Abend“ im Kreise der wenigen Gleichgesinnten
werden wieder die Lauscher aufgestellt :
Im „Der große Regen „ findet sie einen anderen Zugang zum Regen als
Erneuerer! Faszinierend ist der Text der „Schlacht um Jericho“, Zeile für
Zeile kann sie auswendig mitsingen, die Harmonien erinnern sie sogar
an „Hit the road, Jack „ von Ray Charles.
Und wie wahr es ist:
„Es dreht die ganze Erde, ein jeder Kontinent sich ewig um das goldene Kalb,
das am Ende doch verbrennt!“
Ob im „letzten Zug“ oder im Spiritual „Hallelujah“, es geht um existenzielle Fragen, um den Kontrast von arm und reich, um einen geradlinigen Lebensweg
und darum sich bei allem, was man tut, noch selber in die Augen schauen zu
können.
All dieses – so inbrünstig und straight von Kiesewetter vorgetragen – immer mit
dem Blick aufs Jenseits gerichtet – verinnerlicht sie.
Und freut sich , als ihr Mann vierzig Jahre später diese und ähnliche Songs hört und sich durch diese zu eigenen Gospelstücken inspirieren läßt.
Wenngleich für sie der Himmel eigentlich kein Ort im Jenseits ist, sondern ein Zustand! Das ist der Stand ihrer Erkenntnis, seitdem sie sich mit östlichen Religionen beschäftigt hat.
Und somit gibt es ständig eine veränderliche Diskussionsgrundlage über Glaubensfragen mit ihrem Mann.
(c)Renate Rave-Schneider, Oktober 2015
Ein Gedanke zu „Sinnnsuche 1965 / 1966 mit Knut Kiesewetter“
was mir an diesem Text gefällt: ein eigentlich ziemlich unspektakuläres Erlebnis (das Hören der Platte) rührt eine Saite an, die dann viele, viele Jahre als (ein) Grundton weiterklingt, der das Leben prägt und auch Veränderungen und Entwicklungen mitmacht. Das finde ich schön beschrieben.