Erinnern fängt mit damals an:
Unfreiwillige Einkehr in Nyhavn/Kopenhagen
Sommer 1966: So war Vater: Nach einigen Tagen Ostsee nahe Laboe
war es ihm zu langweilig: Er musste mit seinem Benz herum juckeln
und wir mussten, wollten sogar mit.
Nach Dänemark sollte es gehen, zum Schloss Helsingborg und nach
Kopenhagen. Zur kleinen Meerjungfrau und in den großen Tivoli,
aber vorerst musste ja ein Quartier gefunden werden.
Es regnete, es nieselte, es war dunstig in der Stadt gegen 18 Uhr abends
und Mutter und ich wollten im Auto sitzen bleiben, während Vater mit
elfjährigem Bruder nach einem oder zwei Hotelzimmern suchte.
Wir waren wohl so blauäugig zu denken, das wäre eine Angelegenheit
von einem Stündchen und ich döste so vor mich hin., träumte vom
Märchendichter und mehr. Als eine weitere Stunde vergangen war, meinte Mutter:
„Komm, nimm Tasche und Schirm, wir können hier nicht noch länger
sitzen bleiben. Lass uns irgendwo einen Apfelsaft trinken gehen und eine
Toilette aufsuchen!“
Gesagt, getan, so liefen wir durch das Stadtviertel Nyhavn und registrierten,
dass es wohl ein Hafenviertel, ein Kneipen-Viertel war, überall über diversen
Häusern und Kaschemmen Leuchtreklamen wie „Shanghai “ oder „Mozambique“
und dazwischen tätowierte Kerle, oft breit wie Bäume , wie Kleiderschränke
oder im Kontrast dazu schmal wie ein Handtuch, die manchmal ein Mädel im Arm
über die Straße schwankten.
„Wo sind wir denn hier gelandet?“ fragte ich mich halblaut.
„Komm, in dieses Haus können wir reingehen!“ meinte Mutter „keine Leuchtreklame,
sieht unauffällig aus, hier bekommen wir unseren Apfelsaft und können das stille
Örtchen aufsuchen!“
„Diese Kneipe heißt Gammel Dansk!“ meinte ich lachend, „klingt ja Vertrauen -erweckend!“
Und wir betraten den Kneipenraum und wollten uns durch Rauch- und Nebelschwaden
einen Weg bahnen. Laute Harmonika-Musik und Gegröle aus zig Kehlen und rhythmisches Fuß – Gestampfe ließ uns aufhorchen,
doch was meine Augen dann wahrnahmen, nahmen sie eben nur verzögert wahr:
Die aus meiner Sicht wirklich nicht mehr junge Kneipenwirtin saß mit bis zur Taille geöffneter Bluse, aus der eine Brust keck herauslugte, mit hochgezogenem Rock
auf dem Schoß eines bärtigen Seebären und der Stuhl wippte und quietschte, die beiden stöhnten. Der leicht duselige Blick dieses Seebären war stier und wurde immer feuchter, Schweiß-Perlen standen auf seiner Stirn.
„Das ist ja widerlich!“ sagte Mutter, „das ist Jugend gefährdend, dazu noch am helllichten Tage,
wir müssen hier raus und das sofort!“ Das war jedoch leichter gesagt als getan, denn es schoben
sich uns Hände und Füße und andere Körperteile von liebeshungrigen Männern entgegen.
Offensichtlich waren die meisten dieser Kneipenbesucher ausgehungerte Seeleute oder Tagelöhner,
die nach Wochen auf Schiffen oder in öden Häfen , nach Wochen mit Trockenfutter und Pökelfleisch
mal was Herzhaftes begehrten. Dabei handelte es sich offensichtlich um lebendiges Fleisch. Einer der Männer versuchte Mutter zu sich herunter in eine schummerige Sitzecke zu ziehen, ein anderer griff an meine Hüfte. Ich musste mit dem roten Regenschirm energisch einen Weg
hinaus bahnen und Stärke demonstrieren, was mir auch gelang.
„Wo wart Ihr denn stundenlang“ fragte Mutter entrüstet und ungehalten, die nun im Auto wartenden
Männer. Hast Du etwa dem Jungen dieses widerliche Viertel genauer gezeigt? Hier übernachte ich
ganz gewiss nicht!“
„Alles gut!“ meinte Vater, „Es war nur noch ein Zimmer für uns vier frei und zwar im christlichen Seemannsheim!“
„Jetzt fährst Du uns bitte in ein gutes Restaurant in die Stadt“ entschied Mutter.
„Renate hat sich ihren ersten Aquavit verdient. Sie hat mit dem Schirm den Weg aus dieser Kaschemme
frei geschlagen, sie war meine Beschützerin!“
Und als diese hatte ich mir meine Lorbeeren als couragierte Vierzehn-Jährige verdient!
Ach, ich freute mich auf den Tivoli am späteren Abend.
Renate Rave-Schneider, copyright