Der Weihnachtsmann
Eine Episode aus dem Jahre 1974
Die S-Bahn fraß sich durch den Bauch der großen Stadt Berlin, mein Fahrtziel
war Reinickendorf oder war es noch oder schon Tegel?
Als die Bahn plötzlich das Tempo drosselte und in den Bahnhof Friedrichstraße
einfuhr, in Zeiten wie diesen der wichtigste Grenzübergang zwischen Ost und
West, kam mir die Szene so irreal vor wie in einem alten Schwarzweiß-Film.
Soldaten mit unbeweglichen Minen patrouillierten mit geschulterten
Maschinen-Pistolen, in den S-Bahn-Abteilen wurde es gespenstisch still.
Ich fror in meinem für diese Jahreszeit zu dünnen Mantel.
An der S-Bahn-Station Seidelstraße musste ich aussteigen, denn ich hatte vor, den inhaftierten Briefpartner Bert zu besuchen, der hier seit drei Jahren im Strafvollzug Tegel einsaß und auch noch etwa drei weitere Jahre vor sich hatte. Obwohl nicht mein erster Besuch, befremdete mich das Ritual des Abgetastet werden und des Abgebens aller persönlichen Gegenstände erneut. Dann folgte ich einem Justizbeamten über die langen Gänge dieses großen und weitläufigen Gefängnisbaus, in dem Persönlichkeiten wie Wilhelm Voigt, der Hauptmann von Köpenick, als auch einige Widerstandskämpfer des Nationalsozialismus eingesessen hatten, unter anderem der seit April 1943 hier für einige Zeit einsitzende Theologe und Autor Dietrich Bonhoeffer.
“Von guten Mächten treu und still umgeben!“ jenes wunderbare Gedicht, welches er Weihnachten 1944 an seine Verlobte M. von Wedemeyer geschickt hatte, war im Kellergefängnis des Reichssicherheits-Hauptamtes entstanden ; inspiriert dazu ist Bonhoeffer aber tatsächlich durch die Glocken der Gefängniskapelle von Tegel geworden. Ich glaube fest, dass das Schreiben dieser Gedicht-Zeilen dem tiefreligiösen Mann Seelenfrieden gegeben hatte, Licht und Wärme.
Vielfach bekannt ist die letzte und sechste Strophe des Gedichtes bzw. auch Kirchenliedes,
das bis heute immer wieder gerne zitiert wird und das ist der Verloben zu verdanken, die es verbreitete.
„Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost,
was kommen mag. Gott bleibt bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“
Bonhoeffer muss wohl in sich geruht und sein Lebenswerk abgeschlossen haben, als er am 9.04.1945 im KZ Flossenburg zum Tode verurteilt worden und dann direkt auch erschossen worden war.
Er sollte mich noch länger beschäftigen, als Autor, Theologe und Mensch.
Als der Beamte mich in einen schmucklosen Besuchsraum führte, fror ich nicht mehr. Dort saß bereits ein behäbiger Wärter, der auf seine Armbanduhr blickte auf einem Stuhl, er schien mit seiner Leibesfülle die Knöpfe der Uniform-Jacke fast zu sprengen. Der Beamte, der mich hierhin geführt hatte, ging, um wenige Minuten später den Insassen Bert B. für die vereinbarte Besuchszeit von 75 Minuten herein zu führen.
Der hochgewachsene Brieffreund trug die dunkelblonden , in der Mitte gescheitelten Haare ziemlich lang, der Arbeitsanzug war zweiteilig und aus dunkelblauem Drillich; als ich seine Hände zur Begrüßung ergriff, zitterten diese etwas.
Wir setzten uns auf zwei harte Holzstühle an einen Tisch, schauten uns an. Der Wächter war inzwischen leicht eingenickt, zumindest schnarchte er, wenn auch bei halbgeöffneten Augen.
Bert hatte strahlend blaue Augen in einem ansonsten eher verschlossenen Gesicht. Mir wurde gerade bewusst, dass ich von seinem familiären Hintergrund kaum etwas wusste, wohl aber von seinem Strafkonto, seinem früheren Lebensstil und Vorlieben früher und heute.
Zwei Bankraub-Serien und etliche Einbrüche gingen auf sein Konto. Prahlte er etwa damit, wenn er sagte: „Die besten und ergiebigsen Brüche habe ich in Zehlendorf und Nicolassee gemacht!“? So ganz bekam ich das nicht raus. Ich konnte nur mutmaßen, dass sein Elternhaus weder Nest noch Heim gewesen war, nur beiläufig hatte er den sehr strengen Stiefvater erwähnt, kein Taschengeld soll es gegeben haben, keine Geburtstagsfeier, Ferientage außerhalb sowieso nicht, stattdessen Schläge und wenig schmackhaftes Essen. Die höhere Schulausbildung, sprich gymnasiale Laufbahn, für die die Lehrer ihn vorgeschlagen hatten, wurde ihm verweigert.
„Bert, erzähl mir mal von dem Buch, dass du zur Zeit liest?“ schlug ich vor und er plauderte ernsthaft, fast schwärmend von der „Blechtrommel“ von Günther Grass.
„Da hab ich noch lange Lesefutter“ sagte er. Aus Briefwechseln wusste ich, dass er ein gutes Allgemeinwissen, eben auch durch Lektüre hatte, er kannte Buchtitel, von denen ich nie gehört hatte, u a. von Bulgakov, Dostojewski, aber auch Michener, Hemingway, Irgendwie war ich immer verblüfft, dass ein Mensch mit so viel Intelligenz, Feingefühl und Wissen auf die schiefe Bahn gekommen war , bzw. die falsche Abbiegung im Leben genommen hatte. In seiner Knast-Zeit war er auch zu einem sehr guten Schachspieler geworden, über ihn wurde mehrfach lobend in der Gefängniszeitung berichtet, hierüber sprach er jedes Mal, erwähnte es auch in den Briefen.
Der Wärter war inzwischen aus seinem Schlaf hoch geschreckt, ein Zeichen für mich jetzt auch auf meine Uhr zu schauen , noch zwanzig Minuten blieben uns. Bert hatte die Beine von sich gestreckt, war auf dem Stuhl tiefer gerutscht, seine Stirn ruhte an meiner Schulter. So verharrten wir schweigend minutenlang.
Er ergriff nun meine Hand, sagte: „Schicke mir bitte nie mehr Gedichte von Rilke, ich bitte dich darum! Wenn Du möchtest, kannst du das hier ins Weihnachtspaket hineinlegen!“ und er zeigte mir einen zusammengefalteten Zettel. Siedend heiß durchfuhr es mich, hatte ich doch irgendwann selber entdeckt, dass in dem Insel-Bändchen von Rilke auch das Gedicht vom eingesperrten Panther enthalten war, welche Instinktlosigkeit von mir. Ich nahm Berts Wunschzettel in der akkuraten Schrift mit den ausgemalten I-Punkten an mich, sagte noch nach dem flüchtigen Abschiedskuss:
„Ja, es ist nicht mehr lange bis Weihnachten, das Paket wird rechtzeitig losgeschickt auf alle Fälle. Und wenn der erste Schnee fällt, dann werde ich eine Kerze für dich anzünden. Ich glaube fest, dass du wegen guter Führung eher entlassen wirst!“ Die fünfte Strophe von Dietrich Bonhoeffers Weihnachtsgedicht schoss mir beim Abschied von Bert durch den Kopf: „ Lass warm und still die Kerze heute flammen, die Du in unsere Dunkelheit gebracht, führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen, wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht!“
Als ich zwanzig Minuten später die S-Bahn-Station Seidelstraße erreicht hatte, begann es tatsächlich in gleichmäßigen, noch etwas wässrigen Flocken, die allmählich fester wurden, zu schneien. Oh, ich musste mich beeilen, um nach Hause zu kommen, um die versprochene Kerze anzuzünden. Zuvor schaute ich noch auf Berts Wunschzettel, „Gedichte von Hermann Hesse“ las ich da „und ein großer Weihnachtsmann aus Vollmilchschokolade, in einem roten Mantel!“
Renate Rave-Schneider
Nachsatz:
Ich habe nochmals über die Strafanstalt Tegel recherchiert.
Damals lief der Briefkontakt zwischen Bernd und mir ein Jahr später aus und ich habe nie mehr ein Lebenszeichen von ihm vernommen.
Ich habe gegoogelt, dass es seinerzeit bis in die späten Achtziger eine Gefängniszeitung namens Lichtblick dort gab, ob er darin , d.h. im Redaktionsteam wohl mitgewirkt hat? Um dieser Frage nachzugehen, dafür fehlt mir heutzutage, fast 50 Jahre später, der Elan.
Außerdem fand ich heraus, dass auch Andreas Baader, ein RAF-Terrorist in Berlin-Tegel eingesessen hatte, ebenso ein Rapper aus Berlin als auch ein russischer Spion. Sie alle sollen nachher in unsere Gedenken miteinbezogen werden.
3 Gedanken zu „Der Brieffreund aus der Haft, eine 1974 erlebte Episode“
Vielen Dank für diese herrlich geschriebene und interessant erzählte Geschichte. Selbstverständlich frage ich mich jetzt, was wohl aus Bert geworden ist – das ist meiner Fantasie überlassen, da der Kontakt der Erzählerin ja abgebrochen ist. Ich stelle mir einen schnörkelig-schönen Lebensweg für ihn vor, ohne weiteren Gefängnisaufenthalt.
Eine sehr eindrucksvolle Geschichte. So schön geschrieben….ich konnte mich in euch beide hineinversetzen.
Ich weiß nicht, ob du in den Bert verliebt warst, oder ob es Freundschaft oder Nächstenliebe war.
In jedem Fall waren deine Besuche wertvoll für ihn. Oder für euch.
Ich hoffe, er hat seinen Weg gefunden.
Ich habe deine Erzählung gelesen und versuchte mich in deine damalige Position zu versetzen. Briefe an Gefangene schreiben kann ich mir vorstellen, aber dann sie auch zu besuchen eher weniger. Ich habe viel Achtung für dein Handeln, du hast sein Leben bestimmt bereichert. Ich würde nicht weiter recherchieren was aus ihm geworden ist und die Geschichte ruhen lassen. Dein Schreibstil ist gut, man sieht alles lebhaft vor sich. Es ist immer ein gutes Zeichen wenn eine Geschichte dich noch eine Weile beschäftigt.