Ein MOONDOG-Märchen aus einer Zeit, als das Wünschen noch half
Oder: Ein neues Gewand für einen alten, weisen Musiker
In jenem Jahr vor geraumer Zeit hatte der Winter mit Raureif und Schnee bereits ab November Einzug in Deutschland gehalten. So auch in der kleinen westfälischen Industriestadt.
Am letzten Adventssamstag war es wie immer in der Vorweihnachtszeit: Die Erd-Frau aus einem Dorf im Umland machte ihre letzten Einkäufe für das bevorstehende Christfest. Der heimelige Marktplatz des Industriestädtchens- umsäumt von ansehnlichen Bürger-Häusern, dahinter die Silhouette der St. Peter-Kirche mit dem grünen Kupferdach-war von adventlichen Lichtern beleuchtet, große Tannen waren mit Lichterketten geschmückt. Die Erd-Frau, gekleidet in Erdfarben, in sandfarbenen Webpelz und hohe Stiefel, kämpfte sich durchs Gedränge der hastenden Menschen an Karstadt vorbei durch die Breite Straße, die eigentlich die schmalste der gesamten Innenstadt war, um am Ende dieser zu ihrem geparkten Automobil zu gelangen. Etwa in Höhe der Alten Apotheke standen linkerhand zwei magere Jugendliche eines Wanderzirkus mit klappernder Spenden-Büchse, einem Lama und Alpaka, denen sie instinktiv den Schopf kraulte, um anschließend in ihrer Manteltasche nach etwas Kleingeld zu suchen. Da fiel der Blick der Erd-Frau namens Iris rechterhand auf einen hünenhaften, weißbärtigen Mann, der da im Schneegestöber unter einer Straßenlaterne mit geschlossenen Augen stand. Stumm wie ein Denkmal verharrte er da, in seiner rechten Hand ein Speer haltend. Es tropfte aus seiner Nase wie aus einem undichten Wasserhahn und in seinem langen Bart waren doch tatsächlich zwei dünne Eiszapfen zu sehen. Am ungewöhnlichsten aber war die Kleidung des Mannes: Er trug eine Kappe mit Büffelhörnern, unter der sein wild wachsendes Haar hervor lugte und einen weiten Umhang, der wie ein Wikinger-Gewand aussah. Neben ihm sichtete Iris jetzt eine Standpauke und an der Hauswand lehnte ein Violinen-Koffer.
Was war er: Ein Clochard, ein Wikinger, ein Straßenmusiker? Iris sah ihn grübelnd an, „Der steht hier schon seit morgens um 9 Uhr!“ raunte der Junge vom Wanderzirkus ihr zu, ein paar Mal hat er sich Kaffee vom Bäcker geholt!“ Sie spürte wie ein Gefühl von Mitleid sie erfasste. Beherzt schritt sie auf den Mann zu und fragte; „Wie ist Ihr Name?“ „Moondog“ sagt er nur nach einer kleinen Pause. „Wie Moondog?“ fragte sie ungläubig. „Ja, so wie mein vor 20 Jahren in Amerika verstorbener Blinden-Hund, der immer den Mond angebellt hat!“
„Moondog, ich würde gerne etwas Musik von Ihnen hören, wenn es Ihnen lieb ist!“ Huschte da ein Lächeln über sein Gesicht, es war ja schwer zu erkennen, plötzlich aber war eine lichtvolle Stimmung zu spüren: Für die Beiden und auch alle Umstehenden war es wie Helligkeit in der Abenddämmerung eines kalten Dezembertages in der Fußgängerzone der kleinen Stadt.
Mit seinen klammen Fingern öffnete Moondog den Violinen-Koffer und nahm sein Instrument heraus. Die Musik, der Iris nun in der nächsten halben Stunde lauschen durfte, war der ungewöhnlichste, bizarrste und wunderschönste Hörgenuss, den sie in dem Vierteljahrhundert ihres bisherigen Lebens erlebt hatte, eingeleitet durch Moondogs lyrische Worte. Eine Mischung aus jazzigen mit recht altertümlichen Klängen, die ihr seltsam vertraut vorkam. Woher? Auch Lama und Alpaka waren ergriffen, sie trabten zu ihm und nahmen zu seinen Füßen Platz, eine Blaumeise flog herbei und setzte sich auf seine Schulter. In den Spielpausen fütterte er die Tiere mit Brosamen aus der Tasche seines Gewandes. Wo er wohl leben mochte, hatte er ein eigenes Bett, einen Tisch, frische Kleidung, bekam er genug zu essen. Diese Frage ließ ihr von nun an keine Ruhe.
Nun endlich, es war der Mittag des ersten Weihnachtstages, saß Moondog am Tisch in ihrer Wohnküche und schlürfte heißen Kräutertee mit Honig. Fünf Tage täglich war Iris in die Stadt gefahren, hatte seiner Musik gelauscht, mit ihm geredet, sogar die Wohngemeinschaft aufgesucht, in der er lebte. Eine Hippie-WG war das, Oberhaupt war der rotblonde, koboldhafte Oleg mit seiner Perserkatze und seiner Geliebten Blue.
Diese Gemeinschaft war ein Ort für verlorene Söhne und Töchter, für verkorkste Außenseiter und Nachtschattengewächse. Oleg war, wie Moondog selber sagte, der von allen Bewohnern am meisten blinkenden Steinen, Pilzen und Substanzen hinterher war. Erst dann wurde Moondog berücksichtigt, man war so gnädig gewesen ihn vor drei Jahren aufzunehmen, also erwartete man keine großen Ansprüche von ihm, sein Schlaflager war die Besenkammer, seine Waschgelegenheit im Klo im Flur, er kam sich selber vor wie ein verlorener Dachstuben-Poet im Gedicht von Arno Holz, dessen Verse er bei sich trug.
Bei Iris duftete es nach Braten, nach Glühwein, nach frischem Tannengrün, es war hell und freundlich in allen Räumen. „Hier kommt meine Seele endlich zur Ruhe!“ sagte er und atmete tief durch. Sie lächelte mit aller Güte der Erdmutter, die Schneeflocken zum Schmelzen bringen konnte, die auch sein Dasein plötzlich verändert hatte. Die Wärme war spürbar… Er trug jetzt das abgelegte, karierte Flanellhemd ihres Bruders, warme Cord-Hosen dazu, sein gewaschenes Gewand hing über eine Wäsche-Leine im Keller. Als Eye zum ersten Mal daran geschnuppert hatte, hatte sie widerwillig den Kopf geschüttelt: Wonach riecht es denn so arg? War es denn nie gewaschen worden? „Wind und Regen haben es immer wieder gewaschen!“ hatte Moondog geantwortet und Iris hatte erwidert: „Mag sein, aber ich roch dreißig Jahre Straße und ganz viel Hund und aktuell Tabak-Rauch und schlechte Kneipe!“ „Ach ja, da war noch eine Session gestern.. im Lokal „Eichbaum“, die hatte Oleg organisiert!“ murmelte Moondog. „Du kannst Dir ja mal in Ruhe überlegen, ob Du nicht vom Herzen her immer weiterhin den Wikinger in dir tragen wirst und auch die Weisheit der Edda, selbst wenn Du inzwischen eher alltagstaugliche Kleidung bevorzugen wirst!“ schlug sie vor.
Danach hörten die beiden nicht nur weihnachtliche Musik, goutierten den Sauerbraten, genossen das Sauerkraut( ich liebe Kraut wie alle Deutschen, sagte Moondog und sogar Krautrock) und dann gönnten sie sich noch ein Marzipanbrot und erzählten sich Geschichten über das Lübecker Marzipan und die Hansestädte. Moondog wusste
viel vom Land seiner deutschen Vorfahren, in dem er seit seinem Fort-Zug aus New York inzwischen im vierten Jahr lebte. Abschließend berichtete Moondog über seine gestrige Session im „Eichbaum“ und wie Olegs Freundin Blue, deren Taille er mit seinen beiden Händen umfassen konnte und deren seidenweiches Haar recht gut nach Moschus duftete, sich auf seinen Schoß gesetzt hatte und ihn mit einem Schnapsatem angehaucht hatte, bevor sie mit rauchiger Stimme zu ihm gesagt hatte: „Wir beide, mein Schatz, machen bald zusammen Musik, Ich singe den Blues und Du spielst dazu, zusammen können wir auf die Kacke hauen.“
Traurig hatte ihn das gestimmt, dieses Gerede der verlebten Frau. Und er war abrupt aufgestanden, hatte sein Speer und seinen Violinen-Koffer genommen und war gegangen.
Jetzt saß er bei Iris am Buchenholz-Tisch in der Wohnküche und spielte Zither beim Schein vieler Wachskerzen. Es war ihm wohl.
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Die Stadt der Giebelhäuser, der Kirchen, Kinos und Kneipen, die lebenswerte Friedens-und Bischofsstadt Monasteria machte viele Menschen satt. Zwar nicht alle, aber die meisten und neuerdings auch Moondog undIris, die ein kleines Haus am Stadtrand bezogen hatten, in Nähe von Kanal und Grüngürtel, wovon es in Monasteria ja etliche gab. Das Heim genügte den Bedürfnissen der Beiden mit drei Zimmern, je zwei Arbeitsräumen und Wohnschlaf-Raum mit Himmelbett hinter Milchglas –Scheiben voll und ganz.
Ebenso war Monasteria die richtige Stadt für das ungleiche Paar mit den gleichgelagerten Interessen; Irissang mit ihm seine Kanons und zusätzlich im Jazzchor, sie übersetzte seine Werke aus der Blindenschrift in normale Notenschrift, sie fuhr ihn zu Auftritten in die Musikhochschule und diverse Lokalitäten, sie fuhr ihn zu Schallplattenaufnahmen in Studios in Hamburg und den Niederlanden. „Du bist mein Augenlicht; mein Tor zur Welt, mit dir bin ich endlich ganz vollständig!“ sagte er zärtlich und legte seinen Arm um sie. Gemeinsam umrundeten sie die Promenade, hörten an lauschigen Frühlingsabenden den Türmer von St. Lamberti ins Horn blasen, saugten den Duft der frischen Erde und der Krokusse ein, lauschten dem Plätschern des Wasserfalls an der Promenade und dem Ruf des Eisvogels, der sich im Nass dort badete. „Einen Wunsch hätte ich noch!“ sagte Moondog eines Tages kurz vor seinem Geburtstag, „ich benötige neue Gewänder, da das alte mir schon länger nicht mehr passend erscheint. Es soll aber was anderes sein als die geliehenen Cord- und Jeanshosen, etwas für besondere Zwecke sozusagen.
Warum soll es nicht mal ein drei-teiliger Anzug sein? Darin würde ich mich vermutlich gelegentlich durchaus wohl fühlen. Sogar zwei Anzüge könnte ich gebrauchen, einen schwarzen aus festerem Stoff und einen leichten weißen Sommeranzug. Zu dem schwarzen möchte ich ein weißes Hemd mit Manschettenknöpfen tragen, so wie mein Großvater in Kansas es tat. Aber erstmal muss ein Schneider gefunden werden, der Maß an mir nimmt.“ Und Iris machte einen Schneidermeister unter den Bögen des Prinzipalmarktes ausfindig, zu dem sie ihn begleitete. Als Dank dafür widmete er ihr sein neues Werk , eine Mischung aus Avantgarde-Jazz und Klassik, welches unter anderem seine Ode an den Jazzmusiker Charlie Parker enthielt. Eine Serie von Stücken war nur für sie, die ihm den Kontakt zur Musikwelt vollständig und umfassend wieder hergestellt hatte.
„Wonderful“ sagte sie „Unfassbar!“
Die Zwei lebten nun viele Jahre glücklich und zufrieden mit Musik, Lektüre und Spaziergängen. Eines Tages war Moondog müde. Noch einmal wollte er seinen schwarzen Anzug anziehen. „Ich lege mich vor dem Abendessen noch etwas aufs Bett!“ sagte er und befühlte sehr zufrieden den Zwirn dieses Kleidungsstückes. Er atmete tief und legte sich auf den Rücken. Noch einmal erlebte er jetzt die Tonspur seines Lebens, alle Geräusche und Klänge, die er je gehört hatte, waren ja in ihm gespeichert: Das Rattern der Güterzüge, die den Weizen und Mais in Kansas transportiert hatten, die Mähdrescher und Förderbänder und die Schreie der Vögel auf ihren Vögel-Zügen im Herbst, die Geräusche auf der Blindenschule in Iowa, Triangel ,Marimba ,Gongs und Rasseln, das Klacken der Ampeln für Sehbehinderte, die Straßen . Geräusche in New York und schließlich die Glocken des Kölner Doms, das Tuten der Schiffe auf dem Rhein, der Singsang und die Sessions in der WG und all die Musik, die er mit Iris zuletzt im Kanon gesungen hatte. Zufrieden tat er seinen letzten Atemzug und verstarb.
Sein Grab befindet sich auf dem Zentralfriedhof von Monasteria, wo auch Iris( Ilona Sommer) zwölf Jahre später beerdigt wurde. Doch in unseren Herzen lebt er weiter, ebenso wie in den zahlreichen Musik-Cafes, Clubs, Diskos und auf Schallplatten, die man vor allem in den An- und Verkauf-Platten-Läden noch kaufen kann. Ein Doku-Film von ihm ist in Vorbereitung.
Nachsatz: Die Vita von Louis Thomas Hardin , genannt Moondog, 1916 geboren in Marysville, Kansas, 1999 gestorben in Münster ist unter anderem nachzulesen bei Wikipedia. Die Namen aller involvierten Personen in meinem Märchen sind frei erfunden, jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen wäre zufällig. Oder doch nicht ganz? War zum Beispiel Oleg vielleicht eine reale Person, die ich schon aus meiner Jugend bei den Recklinghäuser Beatfestivals kennengelernt hatte?Das bleibt besser geheim.
Renate Rave-Schneider im Dezember 2022, copyright
6 Gedanken zu „Moondog: Mein Wintermärchen 2022“
Dieses Wintermärchen kann bei mir per E-Mail oder postalisch bestellt werden, es ist mit Fotos bebildert. Es stieß allegemein auf viel Interesse und breite Resonanz, so zum Beispiel abei den Freunden der Eule-Lieder in Münster ud auch bei zahlreichen Freudnen und Bekannten, die mir eine wunderbar einfühlsame Prosa bescheinigten, die viele Bilder im Kopf entstehen ließ mit interessanten Wortschöpfungen und Perspektiven.
Ein besonderes Märchen.
Schön, romantisch und gleichzeitig mit realistischem Sprung ins hier und heute.
Danke für die „Blumen!“ Ja, Märchen können vielseitg sein. Ich denke, dass es an der Zeit ist den Märchen-Begriff neu zu überdenken,e igentlich schons eit Heinrich Heines“ Deutschland, ein Wintermärchen!“
Danke für dein Weihnachtsmärchen, wunderschöne Bilder entstehen bei mir im Kopf
Eine herzerwärmende Geschichte. Ich habe sie gerne gelesen und sage: einfach wonderful.
Sybille, ich freue mich, dass dieses „Wintermärchen“ dein Herz erwärmen konnte. Jetzt habe ich eine Mail von
meiner Freundin Do aus Düsseldorf bekommen, die mich sehr erfreut hat. Folgendes schrieb sie nach der Lektüre des Märchens:
„Glückwunsch, einer so interessanten Gestalt begenet zu sein, die sich perfekt als Märchenfigur eignet. Ein so berühmter Musiker und Komponist in einer Vita bis zum Cochard,
weltweit unterwegs und in Münster gelandet, ja, das ist Stoff für Fantasie. Den Sprachduktus von Märchen und gleichzeitig ahnung von Musik, den hast Du ja drauf. Insofern wunderbar
geeignet für einen weihnachtlichen Text, noch dazu mit der passenden Skulptur Für die Jugend,d ie ihn nicht mehr persönlich kennengelernt hat,hast Du ihn weiterleben lassen. Und das finde ich darüber hinaus Klasse. Liebe Grüße Do!“