Die Vestische oder Liebeslied an eine Strassenbahn
Fünf, oft sechs Mal die Woche saß ich in der
Vestischen Strassenbahn. Manchmal auch
Sonntags, um zu den Beatfestivals in der
Vestlandhalle zu gelangen, einem gesichtslosen
Zweckbau, der sich aber zu diesem Anlass in
einen Energieträger verwandelte.
Die Straßenbahn fuhr mich von der Haltestelle Bruchweg
aus zum Neumarkt, von Recklinghausens Innenstadt
vorbei an der Trabrennbahn von Hillerheide über die
Bochumer Straße.
Dieser Endlos-Boulevard war die Champs-Elysees der
Vorstadt-Süd mit Taubenzüchter-Vereinen, Wettbüros und bürgerlichen Kneipen,
deren Fassaden sogar Biergeruch ausatmeten.
Dort in Süd lag auch die Penne, das Theodor-Heuß-Gymnasium, notgedrungenes
Ziel der langen Tram-Fahrten.
Oh, wie entsinne ich diese blassgelben Waggons der Vestischen mit der Doornkaart-
Werbung. Ein Schaffner kontrollierte die Tickets.
Irgendwann tauchte der dickbäuchige Mann auch in dem
Anhänger auf, in dem ich saß, stolzierte gemächlich durch die
Reihen, kassierte, hatte Wechselgeld in einer umgehängten Bauch-
tasche und fragte mich mit einem Fistelstimmchen nach meinem
Fahrschein.
Ja, das ächzende und wehklagende Geräusch, wenn die Tram
sich durch die enge Bahnunterführung kurz vor der Zeche Blumenthal
zwängte, klingt mir heute noch in den Ohren
Wie fühle ich noch den Blick des ermatteten Steigers, des Kumpels auf
mir; aus dem vom Kohlenstaub geschwärzten Gesicht, aus dem müden
Gesicht eines Mannes, der von der Schicht unter Tage kam und stehend
in der stets schaukelnden Tram fast einnickte, leuchteten urplötzlich
blauen Augen, als er meine langen Beine im kurzen Röckchen sah.
Da rochen Fahrgäste nach Schnaps, da stachen Fahrgäste in engen roten
Hosen und schockfarbenen Pullis aus der grauen Masse heraus.
Schulmädchen mit Zöpfen und Zahnspangen vertilgten schmatzend
Schaumwaffeln und Mäusespeck, ältere Pennäler lasen Comics wie Asterix
oder solche mit erotischer Botschaft oder warfen einen schnellen, gelangweilten
Blick auf irgendwelche Mathe-Hausaufgaben oder Gedicht-Interpretationen.
Meine Freundin und ich hingegen lernten nicht, trällerten aber öfter die aktuellen Songs der Band Frederic and the Rangers, die wir in der Halle gehört und die bei uns schwer
angesagt waren.
Jeden Tag beförderte die Bahn eine Menge Werktätige, Schüler, Hausfrauen,
Rentner, selten Künstler, die vom Bochumer Schauspielhaus in die Ruhrfestspiele-
Stadt pendelten.
Einer, ein Pseudo-Intellektueller mit übergroßer Hornbrille deklamierte Beckett
aus einem Reclamheft, welches er jedoch alle zwei Minuten zuklappte, um sich
über das Bummeln der Bahn zu beklagen, nicht ohne die Fahrgäste aufzufordern
in seine Elegie mit einzustimmen.
„Wieder Verspätung, das ist doch eine elende Bummelei mit der Tram. Wir machen das nicht länger mit, es reicht uns. Was wird aus unseren Terminen und Geschäften?“
Ich konnte mich mit ihm nicht solidarisieren, ich mochte meine Vestische, die mich
zuverlässig weiter trug, die mich auch an geschwänzten Schultagen nach Bochum
fuhr, wo ich im Club Liberitas ein erstes Date hatte oder einfach Gigs irgendwelcher
Liedermacher lauschte und Zeit und Raum vergaß.
Die Vestische brachte mich auch in die andere Richtung: zurück zur Recklinghäuser Stadtmitte
und spuckte mich am Viehtor, der Eingangsschleuse in die Altstadt wieder aus.
Dabei quieschte und schnaufte sie, als wenn es ihr leid täte sich von mir zu verabschieden.
Einmal- es war kurz vor den Weihnachtsferien – hatte sie Eisblumen an den Fensterscheiben
und meine Freundin und ich – noch benommen vom Sekt des Vorabends beim Abschlussball
der Tanzschule, schleiften bibbernd vor Kälte durch den Schnee und suchten schließlich
in Ermangelung eines gefüllten Portmannais im Ikonenmuseum Zuflucht, wo gerade
an jenem frühen Nachmittag „Pictures at an exhibition“ in der Interpretation von Keith Emerson zu hören war.
Die Vestische, ich saß meistens in der Linie 8, fährt schon lange nicht mehr und ich frage
mich , wann sie wohl ihre letzte Dienstfahrt hatte ,bevor sie in Rente gehen konnte und ob sie
in einem Depot noch weiter lebt.
Busse bedienen jetzt diese Strecken und ob es in Recklinghausen noch die Schienenstränge gibt,
in denen man fies mit Stöckelschuhen, sogar mit den Reifen des Fahrrades stecken bleiben konnte,
wird mir auch verborgen bleiben, denn seit über vierzig Jahren lebe ich nicht mehr dort.
Aber gelegentlich hätte ich die Anfrage, ob man in ihren Waggons einmal eine Dichtkunstparty veran-
stalten könnte, so ein richtiges dionysisches Bacchanal.
Renate Rave-Schneider, 2013 copy right
Ein Gedanke zu „Die Vestische“
Was waren das für Zeiten… Dein ‚Liebeslied an eine Straßenbahn‘, das beim Lesen die eigene Jugendzeit vor Augen führt, hast du mit detaillierten ‚Bildern‘ und deiner dir so eigenen Erzählkunst wunderbar beschrieben. Ich hoffe, dass dir dein Wunsch eines Tages erfüllt wird, die von dir ersehnte Feierlichkeit in einem ausrangierten Gefährt feiern zu können…