Große Freiheit HH 1973
Da standen wir nun an der Autobahnauffahrt Muenster-Nord,
Daumen raus ohne Pappschild, aber mit ganz viel Abenteuerlust
und ließen uns vom böigen Wind ordentlich durchpusten, auf eine Karosse wartend, was
manchmal an die fünfzehn Minuten dauern konnte.
Unser Fahrtziel am Wochenende war seltener Amsterdam, meistens
jedoch Hamburg, wo wir bis in die Nacht hinein abrocken wollten und
zwar im Grünspan auf der Großen Freiheit in St. Pauli.
Wir, das waren meine Kommilitonin Angel und ich und da gebürtige
Hamburgerin und unabhängig von den Tramp-Trips auch so häufiger
auf Verwandten-Besuch in der Hansestadt, kannte ich mich in der Szene
auf dem Kiez einigermaßen aus.
Meine Freundin trug einen weiten Parka, ich eine samtige, cognacfarbene
Schlaghose und eine Fransenjacke, die schulterlangen blonden Haare flatterten
im Wind. Ich war die Aufreißerin bei den Tramp-Touren, doch nicht immer
gerieten wir an anständige Autofahrer; wobei es zum Glück nur selten vorkam,
dass wir den Fahrer zum Halten zwingen mussten um in eine andere Karosse
zu wechseln.
Wenn die Kulisse von Hamburg-Harburg auftauchte und wir die Süderelbe
passiert hatten, machte mein Herz jedes Mal einen kleinen Hüpfer.
Es war dann meistens früher Abend und wir mussten schnell noch ein
Übernachtungsquartier organisieren, entweder die Jugendherberge nahe
dem Bismarck-Denkmal auf dem Stintfang oder auch mal ein Release-Zentrum,
wo nicht nur Drogenabhängige therapiert wurden, sondern wo man auch preiswert
übernachten konnte. Schlafen in kleinen Kojen hinter wehenden Bettvorhängen und Bambus-Stühlen als Kleiderablage., daran erinnere ich mich. Aber auch an einen Adonis mit olivfarbener Haut und schulterlangem braunen Haar, der sich im Yogasitz in meine Koje setzte und mir schöne Augen machte, so schmal, so anziehend war er! Gehörte zum Personal und ich zwang mich cool zu bleiben, hatte er doch eine Freundin hier.
Wir stärkten uns mit Milchreis, hanseatischen Gerichten wie Birnen, Bohnen u. Speck oder
roter Grütze, bevor wir uns ausgehfertig schminkten.
Dann ging es hinaus, hinaus auf die Reeperbahn, wo wir zwischen Türstehern
vor zwielichtigen Rot -Licht-Bars oder Animierbetrieben durch huschten.
Es war für mich jedes Mal wieder ein erhebendes Gefühl mich hier so routiniert
und sicher zu bewegen. So, als wenn ich immer hier gelebt hätte und
nicht fast zwanzig Jahre zwischendurch im Ruhrgebiet.
Vor dem Grünspan das übliche Stimmengewirr und ein junger Dealer mit
Aluminiumkoffer, der da auf schiefen Absätzen in seinen Westernstiefeln
herumstolzierte und marktschreier-mäßig jedes Wochenende sein
„Shit, Trips, heiße Würstchen“ herunter ratterte. Zwischendurch biss er dann und wann in ein Fisch-Brötchen.
Drinnen tobte bereits um 22 Uhr abends der Bär.
Auf der großen Tanzfläche hatte sich eine
Menschentraube zusammen geballt und man bewegte sich,
wobei man die Mittanzenden durch die Nebelmaschine nur schemenhaft
wahr nahm, in engem Abstand zu den anderen. Mal kam man in Berührung
mit anderen schlanken , selten kompakteren Körpern und mal drängte sich jemand wie ein Frotteur an einen
und nuschelte etwas in die Ohrmuschel. Auch Einzeltänzer zappelten
da herum, manche auf speziellen Bühnen, die Käfigen oder Boxringen
glichen. Und unentwegt verzauberten Klänge von Krautrock-oder Hartrock-
oder südamerikanischer Musik und man schwofte zu Tangerine Dream, Ihre Kinder, Manfred Man,Deep Purple,
Rare Earth, den Rolling Stones und Santana bis in die Puppen.
Trat man nach gefühlt einer Stunde raus an die frische Luft um eine
Styvesand oder Reyno zu rauchen, so war es bereits drei Uhr und die
ersten Bordsteinschwalben,die ihre Schicht beendet hatten, klackerten
auf extrem hohen Stöckelschuhen mit baumelnden Handtäschchen an einem vorbei, einen süßlich oder russisch-blumigen Parfüm- Duft zurück lassend.
Auf den Toiletten ging es immer turbulent zu, die Klofrau im gestärkten
weißen Kittel, die alle Omi nannten, hatte ein Ohr für ihre Mädels und
deren Kümmernisse wie Liebeskummer, Geldmangel oder Figurprobleme.
Sie wienerte aber auch alles blitzsauber und hatte sich den Entree zu
den Toiletten mit Zimmerpflanzen und Stickdeckchen gemütlich gestaltet.
Hier saß sie dann auf einem roten Plastikstuhl und verzehrte dann und wann ein Matjesbrötchen.
Die Anwohner verfluchten
die Rockhallen und warteten auf den Tag, an dem die olle Kaschemme
endlich in Schutt und Asche aufgehen würde, aber wir liebten sie.
Ja, also das Beste, was es in meinen Grünspan-Nächten je gab, war ein
Live-Auftritt der Krautrockgruppe Kraan, die gerade Songs ihrer neuen
Schallplatte brachten:
Sarahs Ritt durch den Schwarzwald, so hatten die Mannen von
Kraan diese betitelt.
Das war so herrlich lebendiger Jazzrock, zu diesem Grove, der
in die Beine ging, musste man einfach tanzen.
Nicht nur der Flötist, sondern auch die anderen Bandmitglieder
wanden sich wie Schlangen. Die Energie-Funken sprangen über,
es zuckte in meinen Armen, Beinen, Hüften, ich schüttelte mich
und war ganz lichtvolle Energie, brummte mit dem Bass, trommelte
mit dem Schlagzeug, vibrierte mit der Gitarre, sah die anderen Tänzer,
die sich um mich herum tummelten, wie eine große Krake, die mich
einkreiste und verschlingen könnte, doch es war nicht bedrohlich,
sondern lustvoll. Und ich selber war mal Honigbiene, mal fleischfressende Pflanze, mal Tiger.
Nach dem Concert spendierte Hattler, der Bassist der Combo mir ein großes Bier und rückte mir recht nah auf die „Pelle“, sodass ich seinen schnellen Pulsschlag wahrnahm.
„Du hast sehr schön getanzt, total inspiriert!“ lobte er mich, ich sah das ja auch so. Es war der Musik zu verdanken.
Es war die Große Freiheit 1973, nie würde ich sie vergessen, die Adresse
nicht und diese Zeit auch nicht. Sie hat sich fest eingebrannt in mir, wie durch Sonnenenergie.
Renate Rave-Schneider, 17.07.2017
Ein Gedanke zu „Große Freiheit 1973“
Liebe Renate,
mit einem Schmunzeln habe ich deine Geschichte „Große Freiheit 1973“, die du schon auf der „Mülheimer Lesebühne“ im Gepäck hattest, noch einmal auf mich wirken lassen. Ich erinnere mich bei deiner Lesung an freudige Gesichter.
Heute fühle ich mich in meine Jugendzeit zurückversetzt. Ich denke dabei an den damaligen Zeitgeist, in dem wir uns treiben ließen und das Leben mit offenen Armen empfingen.
Trefflich und prägnant hast du mit deiner Geschichte Worte gefunden und Szenen beschrieben, die die Herzen mit Freude füllen
und die Jugend aufleben lassen. Danke!