Die Tonspur meines bisherigen Lebens
Das eigene Brüllen von mir, einem Schreikind mit sieben Monaten,
das Rattern der Güterzüge… auf der Fensterbank der elterlichen Wohnung in
Bahnhofsnähe sitzend, das quietschende , knarrende Geräusch von Kreide
auf der Schiefertafel, vom Griffel auf den Heftseiten, das Fauchen der Tiger bei Dressurnummern im Zirkus,
das Glöckchen zur Bescherung am Heiligen Abend und später das leise Schluchzen der Mutter wegen Enttäuschung durch Vater,ihre Beruhigung durch aufgelegte Volkslieder für sie auf meinem ersten Schallplattenspieler, das Bohren des Zahnarztbohrers und
die Schmerzbehandlung und die Belohnung für Tapferkeit durch die Klänge der geschenkten „Wonderland by night „ durch Bert Kaempfert, später tatsächlich
Verzauberung durch die Stimmen von Gitte und Rex Gildo“Gehen sie aus im Stadtpark die Laternen“, die johlenden, klatschenden Nonnen vor dem viereckigen Kasten, der die ersten Beatclub-Übertragungen wiedergibt, die
Glocken von St. Angela und die Stimmen der Protagonisten im Kinofilm „Onkel Toms Hütte“, der Sound der Beatfestivals in der Vestlandhalle und der Geräusch-Cocktail auf der Palmkirmes, die Vestische, die sich vor der Zeche Blumenthal ächzend in die Kurve legt, der Drall und Fall des Handballs,
Theodor-Heuß-Gymnasium, Abifete mit „Give peace a chance!“, der Sound der
Diskotheken in Rust und Freiburg, das Motorengeräusch meines roten Käfers, mit dem ich in einem Jahr dort 30.000 Kilometer fuhr, Manitas de Platas-Fußstampfen und der Klang der Saiten seiner Flamenco-Gitarre in Arles,
das Zischen der Schlangen in den Lavendelfeldern der Provence, das Geräusch, was der Rotwein machte, als er in meine Kehle floss, das Klappern der Hufe der
Brauereipferde in Münster und die Stimmen der Profs in den Hörsälen wie von weit her, Lustschreie und Stöhnen in zerwühlten Laken in irgendeiner Wg in irgendeiner Stadt, das Zähneklappern des frierenden Junkies auf der Neuköllner Hasenheide, „Zurückbleiben bitte“ in der Geburtsstadt und die synchronisierten Stimmen „ Gesundbrunnen, Friedrichstraße, Allermöhe, Poppenbüttel, Opera, St. Michel“, endlich Hochzeitsglocken von St. Paul in Recklinghausen 1978 und die markige Stimme von Mitch Ryder und von Ginger Baker im alten Jovel Münster, das Robben-artige Fiepen unserer Kinder als
Babies, das Senfglas, an die Wand geklatscht und in tausend Scherben zerbrochen, das Schnauben der Kamele in Luxor, das Eiern der Räder einer Pferdekutsche in Büyükada , die Rufe des Muezzins in Istanbul –Eminnönu, der
Marktschreier auf den Stuttgarter Wasn, wieder Volkslieder und Shanties und
die Stimme vom Captain of my Heart, der Sound der Elbphilharmonie und das
Mittelalterfest in Telgte mit all den Dudelsäcken und Fiedeln und dem Blöken der Schafe, das kochende Wasser, was das Ei umrundet und das Rauschen des Computers , an dem ich sitze, mein Herzschlag und das Pochen der Seelen von zigtausenden Flüchtlingen, , das Geschrei der wildgewordenen Sonne, das Mantra-Singen.
Renate Rave-Schneider, 27.07.2019 copyright
2 Gedanken zu „Eine Reminiszenz“
Einige deiner Erinnerungsbilder kommen mir bekannt vor. Es mag daran liegen, dass unsere „Tonspuren“ parallel liefen, wenn auch ganz unterschiedlich. Wir sind Individuen. Wunderbare Idee, dein Leben in dieser Form fließen zu lassen. Mit Freude gelesen!
Das Glöckchen zur Bescherung – JA!
Stimmen in der S-Bahn, die die nächste Station ankündigen – auch JA!
Kreide auf der grünen Tafel an der Wand in der Schule – 1000fach gehört.
Großartig, das zu lesen und sich selbst zu erinnern …