Meine Daddy-Lessons
Oder die Lehrsätze meines Vaters
Vater, der als „Medizinmann“ nur über wenig Zeit für
seine beiden Kinder verfügte – es sei denn, es waren
Sonntage, Feiertage oder Ferien – hatte ganz bestimmte
Vorstellungen, wie ich als seine Tochter aussehen sollte.
Schon vor der Einschulung wünschte er sich:
„Sie soll Zöpfe tragen und niemals so eine Pony-Frisur,
ein kluges Mädchen zeigt Stirn!“
Er war wie ein Trainer da, als ich die ersten Schwimmzüge
im kleinen rechteckigen Pool des Gartens machte, auf
Wald-Spaziergängen lehrte er mich eine Brücke zu bauen.
Und es gelang, denn die Wirbelsäule war zu der Zeit biegsam
genug, ich lernte Fahrrad fahren unter seiner Regie und die
Grundzüge des Jiu Jitsu.
Später, als ich mit Begeisterung die ersten Beat-Festivals besuchte,
war er mit seinem Benz deutlich sichtbar vor dem Veranstaltungsort
zu sehen und holte mich beizeiten ab, was mir peinlich war.
Und er brachte seinen ersten Lehrsatz an:
„Lass Dich nie von dem anstecken, was alle machen, falle nie in Ohnmacht
oder kreische mit bei diesen Bühnen-Stars. Mit anderen Worten:
Werde niemals Fan, behalte immer die kritische Distanz! Und das gilt auch
Politikern gegenüber, trete also am besten nie in eine Partei ein.
Du musst wissen: Die Masse Mensch ist dumm!“
Diesbezüglich fielen seine Worte auf fruchtbaren Boden, ich tummelte mich
in den folgenden Jahren vergnügt bei Auftritten von Bands in Hallen und auf
Open-Air-Festivals, ich sah bei DKP-Festen begeistert Formationen zu, die
Gitarren und Schlagzeug unterlegt, Parolen schmetterten, ich war mal hier, mal da , aber immer mit einer gewissen Portion Skepsis.
Mein Vater stopfte des Abends gerne seine Pfeife, trank dazu Tee mit Whiskey an den Wochenenden und bat mich zum Gespräch in sein
Arbeitszimmer, wo er in Gläsern zwischen Kakteen aus Sizilien Nieren-Steine,
Knochen-Splitter und dergleichen aufbewahrte.
Ich ahnte, es war mal wieder so weit für eine Daddy Lesson und richtig, sie kam. „Du machst ja bald Dein Abitur, das Sprungbrett für eine vernünftige Karriere. Weißt Du schon, was Du dann studieren
willst?“ Ich hatte anderes im Kopf und deshalb keine Ahnung. Irgend etwas
würde ich mir für das nächste Gespräch mit Vater einfallen lassen, das war
klar, denn er forschte unerbittlich weiter und ich wollte weg aus der Kreisstadt im Vest Recklinghausen, weit weg vom Elternhaus in eine Studienstadt im Süden, deshalb würde ich mich wohl für ein Studienfach
einschreiben lassen , was er gutheißen würde. Denn ich war auf seinen Wechsel angewiesen.
„Du erinnerst Dich an die Hochzeits-Vorbereitungen meiner Sprechstunden-Helferin letzte
Woche? „sagte er. Für viele Frauen ist so eine Hochzeit das Aufregendste im
Leben, was sie total erfüllt. Werde Du anders, behalte immer einen größeren Horizont, bilde dich , wo Du nur kannst
und bleibe Dein Leben lang an allem geistig interessiert!“
Vater schaute mich mit wie ich fand etwas glasigen Augen an und fragte dann:
Wohin zieht es dich in der Welt, welchen Studienort wirst Du auswählen? Egal, wohin, Du wirst mit vielen unterschiedlichen Menschen in Berührung kommen. Merke Dir eines : „Fast alle Männer sind Schweine!“
Was macht ein junges Mädchen mit so einer Erkenntnis?
Ist sie taff, so wird sie wohl den Wahrheits-Gehalt überprüfen wollen, das
bedeutet, dass sie viele verschiedenen Männer kennen lernen wird und dann
eines Tages selber Bilanz ziehen kann! Erstmal also machte ich Abi und zog dann in die Welt hinaus.
Nach über einem Jahrzehnt, ich hatte inzwischen Jura studiert, Kunstkurse gebucht, geheiratet und zwei Kinder geboren, war ich mal wieder zu Besuch im Elternhaus.
Vater, der einen weißen Sommer-Anzug trug und zu einer Veranstaltung im
Brauhaus Boente aufbrechen wollte, sagte : „Ich gehe gleich zum Jatz!“ Das Wort Djass rollte ihm nicht weich und geschmeidig von der Zunge, „aber
wir wollen vorher im Garten noch ein Glas Wein trinken!“
Im nun folgenden Gespräch war Thema, dass Wolfgang, mein Angetrauter,
eine Stelle in einem Dorf im entlegensten Winkel Ostfrieslands in Aussicht
hätte. Des Geldes wegen dachten wir kurz über diese Bewerbung nach, doch
Vater winkte energisch ab: „Er soll das ausschlagen, um GottesWillen, geht doch nicht in die Dörfer. Bleibt in Münster als Standort, dort habt Ihr die
drittgrößte Universität des Landes und zahlreiche Bildungseinrichtungen, die
Ihr bis ins hohe Alter nutzen könnt! Und Du kannst immer noch an der Kunsthochschule deinen graphischen Interessen frönen, was Du ja ursprünglich vorhattest, nicht wahr?“
Dann verabschiedete er sich und entschwand, ich sehe noch sein spitzbärtiges
Gesicht vor mir, spüre noch den energischen , festen Händedruck, denn umarmt hatte er mich selten. Dafür umso öfter auf die Schulter geklopft.
Ja, in gewisser Weise hat er mich taff fürs Leben gemacht!
Ein Gedanke zu „Daddy Lessons von Renate Rave-Schneider“
Gestern sah ich auf einem Baum vor dem Fenster des Musikzimmers unserer Wohnung einen prächtigen Kolkraben, der seinen Schnabel weit geöffnet hatte, so als wolle er singen. Oder sprechen.! Der Rabe ist seit Jahrhunderten der Wappenvogel der Familie meines Vaters aus dem West-Münsterlandes. „Oh“, dachte ich, „da will Dir Dein Daddy (1994 verstorben) durch dieses Krafttier bestimmt eine Message bringen. Und ich erinnerte mich sehr plastisch an seine Weisungen, die ich hiermit aufschriebe. Renate Rave-Schneider im Mai 2019