Stories

Beat, Reiten, Reisen

Der Brief prangte deutlich sichtbar auf dem antiken Milchschrank
in der Diele. Schon durch sein übergroßes Format und eine linkische
Krakelschrift sprang er ins Auge, Camilla wurde blass.
Es war 14.50 Uhr, ein ätzender Tag auf der Penne, einem Gymnasium mit dummen
Pauker-Ansagen und langweiligem Stundenplan lag hinter ihr und
eigentlich wollte sie nur in Ruhe – wie jeden Freitag Bratkartoffeln
mit Fischstäbchen von Käpt`n Iglo essen und anschließend in ihrem
Zimmer Radio Saarbrücken mit Manfred Sexauer hören.
Doch in der Diele saßen  Vater und Mutter mit – wie Camilla fand-
unangemessen ernsten Gesichtern und Vater sagte fast in einem Befehlston:

„Würdest Du bitte diesen Brief, dessen Absender der deutschen Sprache
wohl nicht mächtig ist, denn er schreibt selbst deinen Namen falsch, öffnen
und uns über den Inhalt aufklären!“

„Gemach, gemach, Dad!“ antwortete Camilla betont lässig, während sie
mit ihrem stählernen Peace-Anhänger spielte, dabei fühlte sie jedoch einen
Kloß im Hals und hatte schwitzige Hände.
Der Brief enthielt ein wirres Gekritzel, er war völlig unstrukturiert und idiotisch
und stammte von einem Rüdiger Wessel aus einem Kaff bei Celle.
Doch als sie zu der Zeile kam“ Meine Hobbys sind Beat , Reiten, Reisen!“ musste
sie unwillkürlich grinsen, war es doch ein Satz, den er direkt aus ihrem Brief übernommen
hatte,; dieses Fragment hatte er korrekt abgeschrieben, ansonsten aber zeugte der gesamte Schrieb von Phantasielosigkeit.

„Was hat sie denn da zu lachen, die hat aber auch nur Flausen im Kopf!“ wendete sich
Vater  an Mutter, die inzwischen eisgekühlte Cola serviert hatte, Cola und Salzstangen sowie Roastbeef-Schnittchen,
um auf diese Art die Atmosphäre ein wenig aufzulockern.
„Wenigstens etwas Gutes! Ray Davies von den Kinks hat sarkastisch über saturierte Londoner geschrieben, die ihr Rostbeef vertilgen und für die Kohle keine Rolle spielt!“ schoss es Camilla kurz durch den Kopf.

Der Schreiberling jedenfalls schlug eine Freundschaft vor und beendete sein Geschmiere dann mit
dem Satz: „Du bist das schönste Mädchen der Welt!“
Nur diese Botschaft teilte sie ihren Eltern mit, die aufgrund der Aussichten auf weitere Exponate dieser Art entsetzt reagierten und sie nötigten sich
noch am selben Nachmittag an das Ungetüm einer Schreibmaschine zu setzen, um dem
jungen Mann aus Celle mitzuteilen, dass sie ein Gymnasium mit hohen Anforderungen besuche
und keine Zeit für einen Briefverkehr habe.

„Nur eines möchte ich noch wissen?“ fragte Vater, glücklicherweise schon mit Autoschlüsseln
in der Hand, „wie ist denn dieser Kontakt überhaupt zustande gekommen?“
„Ach, irgendwie blödsinnig und der Langeweile geschuldet, weil ich ja abends immer eher zu
Hause sein muss als alle anderen aus der Klasse: Ja, ich hab da erst Radio Veronika  und
dann  einen weiteren  Sender gehört , da wurden halt Namen und Adressen von Typen,
die Brieffreundinnen suchen, verlesen!“ murmelte Camilla; sie wollte endlich raus aus dieser Nummer
und aus der ganzen Situation.
Wie hatte sie denn ahnen können, dass sie sich bei den Durchsagen im Äther so ein Geisteskind
gerufen hatte. Einen – wie das beigelegte Foto belegte –  Typen in   unansehnlichen Trainingshosen. Sie hatte sich einen Boy mit langen Haaren und Gitarre oder Saxophon vorgestellt, aber ein solcher probte
wahrscheinlich lieber irgendwo mit einer Band oder hing mit Freunden in Lokalen ab, die sie nur
am frühen Abend betreten konnte, doch nicht, wenn da was los war.
So wie Öle von Frederic and the Rangers, der mit ihrer Freundin ging und
auf deren Geburtstag gerade seine erste Single mit gebracht hatte.

Als sie Stunden später an der verflixten Schreibmaschine saß und sich ein paar Strähnen ihres
Haares aus dem Gesicht strich, da konnte sie die Lage nur in dem Wissen ertragen,
dass sie sich morgen nach der Schule und noch vor dem Reiten  bei Radio Vels in der Innenstadt mehrere Singles von den Rattles,
den Kinks und Spencer Davis kaufen würde, vor allem aber „My generation!“ von den Who.
Das musste einfach sein: Sie fand John Entwhistle, Keith Moon, Pete Townshend und vor allem
Roger Daltrey richtig Spitze und sang mit ihren Freundinnen begeistert den Refrain:
„People try to put us down( Talkin bout my generation), just because we get around.
Jetzt hatte es sich verselbstständigt, sie konnte das Klackern der Maschine übertönen mit
„Things they do look awfull c-c-cold, I hope I die before I get old!“

Und damit war die Aussicht auf bessere Tage gerettet, Vater würde ein langes Wochenende auf der Architekten – Tagung
sein und Camilla hätte Zeit genug sich mit ihrer Clique zum Festival in der Vestlandhalle zu
treffen. Die Halle war zu einem Mekka von Beatjüngern geworden und
sie – Camilla- war jetzt öfter mittendrin.

Den Rest des Tages verbrachte sie auf ihrem Zimmer und blätterte in aktuellen Ausgaben des Music-
express, wo ausdrucksstarke Bilder der Straßenkämpfe zwischen Rockern und Mods zu sehen
waren, Bobbies, die mit Schlagstöcken auf rivalisierende Banden losgingen, twistende Teens
und Twens , Boys auf Motorrollern mit Zigaretten im Mundwinkel und Sean Connery a la James
Bond auf Kinoplakaten.

Eines war klar: In etwas mehr als zwei Jahren , sobald sie achtzehn wäre, würde sie das Elternhaus
für immer verlassen und in der Ferne ihr Glück suchen.
In weiter Ferne. Am besten in Marokko! Oder in Andalusien, das ging auch!

Doch der Alltag lief weiter:

Sie hatte einen neuen Mitschüler, Max hieß er, er war lässiger als die anderen, raffinierter und hatte als erster die angesagten Scheiben, die samstags mittags
Immer von einer schlecht Englisch sprechenden Verkäuferin von Radio Vels verlesen wurden. Er trug teure Schuhe, jeden Tag ein anderes Paar.  Wegen einer Messerstecherei war
Max vom Lessing-Gymnasium geflogen und  nun mischte er die Klasse auf und stellte ausgerechnet ihr ziemlich heftig nach. Was einerseits schmeichelhaft und andererseits
lästig war. Schmeichelhaft war es, dass er ihr im Treppenhaus stets auf der langen Treppe folgte, wenn sie Nahtstrümpfe trug und sie die vibrierende Energie  in ihrem Rücken spürte. Sie war die Einzige in der Klasse, für die er sich interessierte.  Im dunklen Klassenraum nach der Dia-Vorführung rieb er sich wie ein Frotteur an ihr oder betastete, aus einer Korridor-Ecke hervor taumelnd ihre Brüste. Er war vom Äußeren her so gar nicht ihr Typ, das militärisch kurze Haar war fettig und auf seiner Nase sprossen Pickel. Wenn er sie küsste, feucht wie ein Frosch, stellte sie sich bei geschlossenen Augen vor, es wäre ein anderer, der aktuelle Schwarm meistens. Dann konnte sie dem sogar manchmal etwas abgewinnen.

Auch ein Pauker ärgerte,
der Kunstlehrer Damme nämlich. Er ließ die Noten auswürfeln und sie stand wie paralysiert da und fand es ungerecht.
Ungerecht, dass dieser Glatzkopf sie mit der Note vier verarscht hatte.
Was glaubte der eigentlich, wer er war: Führte kaum an die großen Maler wie
Michelangelo oder Casper David Friedrich heran, aber veranstaltete alberne Happenings, die nur einen Zweck hatten: Die Schüler zu veralbern.

Aber der ganze alltägliche Wahnsinn war nicht wirklich wichtig, seitdem sie begonnen hatte Hesse zu lesen. Und Kerouac!  Capotes  „Diamond Guitar“   war auch nicht schlecht.
Seitdem sie Purple Haze von Jimi Hendrix gehört hatte.
Seitdem sie Bananenschalen geröstet und versucht hatte das Zeug zu rauchen.
Und seitdem sie reiten ging, zweimal die Woche.

Ihr Pferd im Reitverein hieß Springtime und war ein schneller Fuchs.
Sie sattelte es und genoss dann zwei Stunden mit Ausritten durch die Haard:
Auf Sandwegen und breiteren Waldalleen wurde getrabt und galoppiert,
sie flog auf der Stute dahin und alle Kümmernisse existierten nicht mehr.
Sonntags wurde meistens ausgeritten und bereits am ersten Hof am Waldrand eine
Pause eingelegt, bei der der Bauer oft jedem Reiter hoch zu Ross ein Schnäpschen servierte. Einen eisgekühlten Genever.

Mittwochs gab es dann Dressurreiten, was sie nicht so schätzte, denn eigentlich
war sie ja nur als Bonanza-Fan auf ihr Hobby gekommen:
Für sie musste Reiten ursprünglich und am besten zügellos sein.

Auf den Rückfahrten per Fahrrad genoss sie die würzige Luft, den Geruch
der herbstlichen Kartoffelfeuer, den süßlich-moderigen des Fallobstes, die
Gespräche mit anderen radelnden Reiterinnen.

Doch mit den Radtouren  dort- und anderswo hin sollte es bald jäh vorbei sein.

Denn der Rüdiger Wessel hatte nicht aufgehört zu schreiben, mehrfach
wöchentlich trudelten seine Briefe ein:
Ja, beim Sender habe er sich beschwert, dass Camilla ein blödes Mädchen
wäre, das blödeste der Welt  und er würde sie bald in der Innenstadt überraschen, um ihr
das selber zu sagen. Er hätte schon die Eisdiele Calamini in der Innenstadt
ausfindig gemacht und würde ihr das dort ins Gesicht schmettern.

Als dann eines Tages das Telefon klingelte und er tatsächlich dran war,
gingen bei Camillas Mutter alle Alarmglocken.
Umgehend besorgte sie aus einem Waffenladen in der Stadt Pfefferspray, beriet sich mit Camillas Vater, dem großen Zampano, der ihr Jiu Jitsu empfahl, was sie
ablehnte und
organisierte einen Taxifahrer, der ihr empfohlen worden war, den stillen, ach so
sympathischen Herrn Dillwald.
„Und achte, wenn Du aus dem Haus gehst. Dieser Wessel kann zu allem
fähig sein. Er könnte dich mit Salzsäure übergießen. Er könnte sonst was
mit Dir anstellen!“

Camilla fand die Vorstellung zwar auch gruselig, aber sie glaubte nicht
an Gewaltakte. Für sie war Rüdiger Wessel eher ein bedauernswerter Kerl, der
sich so sehnlich eine Frau wünschte , aber wahrscheinlich nur eine Gummipuppe
bekommen konnte.

Aber dennoch: Da ihr das Reiten wichtig war, fuhr sie halt mit Dillwald
zum Reitclub. Fuhr sie halt mit ihm zu Abendveranstaltungen in der Schule.
Und unterhielt sich mit dem älteren Herrn über die Kneipen
und das Nachtleben der Kreisstadt und bemerkte, wie er sie immer von der Seite anstarrte,
vor allem, wenn sie ausgeschnittene Blusen trug.

Das ging so ein halbes Jahr etwa. Rüdiger Wessel schien aufgegeben zu haben,
fast. Einige Male rief er noch an.

Die Kreisstadt hatte sich inzwischen gemausert: Es gab öfter Veranstaltungen im Jugendkulturring und derVeranstaltungshalle: Ingo Insterburg trat dort auf
ebenso wie die großartige Psychedelic Rock Band Golden Earring !

Camillas Befinden verbesserte sich zusehends, denn sie hatte die Aussicht in den
Osterferien Swinging London zu besuchen. Und das sogar für zehn Tage!

Eines Tages kam Mutter ganz blass vom Frisör zurück.
Was ist“ fragte Camilla, „Du wirkst ja richtig geschockt!“
„Stell Dir vor, was ich beim Coiffeur erfahren habe? Den Dillwald hat man gestern
verhaftet, er soll was mit Kindern gehabt und sich an jungen Frauen und Knaben vergangen haben!
Und mit dem habe ich dich wochenlang Taxi fahren lassen.
Ja, ich zweifle allmählich an meiner Menschenkenntnis!“

Camilla hatte für ihre Mutter nur ein müdes Lächeln über, nahm sie dennoch kurz in den Arm.

Und Dillwald: Na ja, es wunderte sie nicht ! Aber ob Knast ihn ändern könne, bezweifelte sie dennoch.
Und im Grunde war ihr das sogar egal.

Eine nervende Zeit schien vergangen so wie eine Schlechtwetterfront, die langsam abzieht.
Nun musste sie noch  eine Weile bis zum Abi daheim ausharren.
Irgendwie ließ sich das machen, denn Mam und Dad hatten ja auch eine ziemlich
sympathische Seite, vor allem im Urlaub.
Da wurde Dad, der Übervater, der Halbgott unter den Architekten, der große
Theaterbauten und Hallen konstruierte, milder und lustiger und schenkte ihr zum Beispiel in Amsterdam
Spontan100 DM mit der Ansage: „ In fünf Stunden könnten wir uns dann wieder
vorm Hilton treffen!“
Mam konnte auch anders, lockerer, vor allem, wenn sie von ihrer
eigenen Jugend in Palermo erzählte, da kam dann die Weltbürgerin durch, die sie mal war.

Mit der London –Reise würde nun ein Auftakt zum Trampen und Fliegen ohne
die Eltern gemacht werden, Reisen, das war es.

Und würde die beiden Hobbys Beat und Reiten wohltuend ergänzen.
Und wenn sie in zwei Jahren in Andalusien oder Marokko leben würde, würde
sie bestimmt einmal jährlich ihre Freunde und auch die Eltern in der
niedlichen Kreisstadt besuchen.
Aus der Ferne könnte sie das Städtchen vielleicht sogar vermissen
mit seinen Wallmauern, dem historischen Hotel und dem Rathaus-Park.
Mit dem avantgardistischen Theater , der Altstadt mit Pferdemetzgereien in Fachwerkhäusern und einem Karstadt-Bau auf dem idyllischen Marktplatz, der aussah wie ein Luftschutzbunker.

Doch noch war sie ja hier und genoss ihre Freizeit.
Jetzt, wo der Spuk vorbei war, lebte sie auf.
Ach, wie war das Leben schön!

Renate Rave-Schneider, copyright. September 2015

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