Die lichten Seiten der Melancholie
Melancholie oder auch Weltschmerz, Wehmut, Talsohle, eben
eine schöne Traurigkeit, welcher Künstler hat sie nicht in Nuancen
oder als regelmäßige Besucherin schon kennengelernt.
Da fallen mir so einige Beispiele aus der Literatur ein, angefangen
mit den Versen aus Johann Wolfgang Goethes „Wilhelm Meister“
das allseits bekannte „Wer nie sein Brot mit Tränen aß“, da denke
ich an Heinrich Heines anrührende Lyrik von der Loreley oder auch
an Hoffmann von Fallersleben „Oh, wie kalt ist es geworden“ sowie
„Liebe und Frühling“
und so vieles mehr……
Auch die Berliner Autorin Judith Hermann schreibt in ihrer Erzählung
„Rote Korallen“ darüber , ich zitiere eine besondere Textzeile daraus:
„Und so blieben sie bei der müden Frau, die Künstler und Gelehrten.
Und sie betrachteten meine Urgroßmutter und meine Urgroßmutter
verschmolz mit dem Dämmerlicht zu etwas Traurigem, Schönem,
Fremden. Und da Traurigkeit und Schönheit und Fremdheit die Grundzüge
der russischen Seele sind, verliebten sich die Künstler und Gelehrten
in meine Urgroßmutter und meine Urgroßmutter ließ sich von ihnen lieben.“
Du wirst diese unergründliche Schwermut , die dich zwischen einer
Reihe von blauen Tagen urplötzlich befallen kann, auch kennen.
Und vielleicht geht es dir da wie mir, wie so manchem.
„The doctor says, I`ll be allright, but I`m feelin blue“. Tom Waits
Da bummelte ich vor gefühlten zehn Jahren über einen mittelalterlichen
Weihnachtsmarkt in der kleinen Stadt Telgte
und entdeckte da zwischen Ständen mit Geschmeide
und Stoffen, zwischen Samen und Kräutern und Bühnen mittelalterlicher
Musik-Kapellen, inmitten einer Schafherde ein kleines Zelt mit einem
Schild davor: „Weissagen und Handlesekunst!“ Es zog mich hinein.
Schnell kam die geübte Kartenlegerin auf den Punkt, ich hätte da viel
Blau in der Aura und ganz schön viel Melancholie, die ich mit mir herumtragen
würde.
„Aber ich kämpfe dagegen an!“ war meine Antwort.
Weise schüttelte sie ihr Haupt.
„Nein, nicht dagegen ankämpfen, damit leben, daraus schöpfen.“
Es hat einige Zeit gedauert, bis ich das begreifen konnte und aus der drückenden
Last eine schöne Traurigkeit entwickeln konnte, die sich sogar künstlerisch umsetzen
ließ.
Meine Lieblingszeit war ja schon immer der Herbst, wenn die Blätter fallen, wenn die
Sonne tief steht, wenn man Nietzsche und Kierkegaard lesen kann und wenn gleißendes
Licht und sogenannte Freizeit-Vergnügen wie Stadtfeste und
Freibad-Besuche nicht davon ablenken.
Es gibt einen besonderen Grund, warum ich den Sommer eigentlich nicht mag:
Man kann sich nicht so zurück ziehen, überall sind Leute, die durch den Wald joggen
oder herumstreifen, vielleicht entdecken sie mein Versteck im Wald, einen Baumstamm
an einem kleinen Bach, auf dem ich gerne sitze oder sie stören mich, wenn ich Beeren
pflücke oder auf Balkonien lese.
Der Sommer ist mir oft zu grell und zu laut, zu grün und zu schrill.
Ein Melancholiker will sich phasenweise von der Welt zurückziehen und seinen Traum
träumen.
Es gibt da einen britischen Rocksänger, Ray Davies, ehemals Kinks, der hat genau das in der
lyrischen Rockballade „Waterloo Sunset “ aus dem Jahre 1967 auf den Punkt gebracht.
„And I don`t need no friends. As long as I gaze on Waterloo Sunset I am in paradise!“
Als Hauptpersonen agierten in dem Song seine Schwester Julie und sein Neffe Terry,die sich
jeden Abend am Bahnhof Waterloo Station trafen. Sie spielten damals nur im Kopf des Dichters
ein Paar, das im Sonnenuntergang, in den Strömen der Rushhour gemeinsam vom Auswandern
in die neue Welt träumte. Diese Analogie galt auch für Ray Davies selber: Der Traum vom
Aufbruch in eine vermeintlich bessere Welt!
Ob als Außenwelt oder innere Bilderwelt wird
nicht verraten, das ist aber auch nicht so wichtig. Das Wesentliche bleibt die Möglichkeit des
Rückzuges und das Bewusstwerden des Bedürfnisses danach. Um wirklich Kreatives zu
schaffen, braucht man das und wenn man dann in diesen Momenten, Stunden , Zuständen
doch mal auf Schwingungen von verwandten Seelen trifft, ist das wie das Aufblitzen einer
Sternschnuppe, die hell leuchtet und einen bereichert zurück lässt.
Renate Rave-Schneider, Auszug aus einem längeren Prosatext.
21.02.2017 copywrite
2 Gedanken zu „Die lichten Seiten der Melancholie“
Hi Renate,
du hast die Melancholie gut beschrieben. Ich erlebe sie ähnlich, fühle mich dann meinem Urgrund näher.
Sie ist für mich so eine süße Zeit der Einsamkeit.
Freue mich immer wieder von dir zu lesen.
Die Melancholie kann tatsächlich zu großartigen Werken verleiten, ich erinnere nur an den jungen, versoffenen Wolfgang Ambros, oder aber den Meister der Traurigkeit, Ludwig Hirsch, der mit „Großer schwarzer Vogel“ ein ganzes Album jauchzender Düsternis schuf, mit teils brillianten Texten (zB. Die gottverdammte Pleite).