Warum mein Urgroßvater Francesco von Lugano aus nach Hamburg aufbrach und dort sesshaft wurde.
Musste Francescos letzter Tag in seiner Heimatstadt Lugano ausgerechnet
in so einem milden, verheißungsvollen Frühlingsabend münden?
Das würde den baldigen Abschied und den Aufbruch in ein neues Leben
in einer unbekannten Großstadt, in Amburgo in Deutschland nämlich, nicht gerade
leichter machen.
Aber der Reihe nach.
Wenn auch noch kühle Winde wehten, vor allem auf den Hausbergen Monte Bré
und San Salvadore, so war es an diesem Sonntag im März 1874 auf der Piazza della Reforma und in den Gassen des Städtchens schon so warm, dass man die Hemdsärmel aufkrempeln konnte und in den Ostarias und im Ristorante das Bedürfnis verspürte die Flügeltüren aufzureißen.
Es war etwa 19 Uhr, da hatte Francesco, mein damals neunzehnjähriger Urgroßvater, ein schlanker, hellhäutiger
Mann mit aschblondem Haar und blauen Augen das Boccia-Spiel mit dreien seiner vier Freunde
beendet . Er lud diese zu einer Runde Grappa ins Ristorante, es würde eine Abschieds-Runde sein, das wollte er ihnen eröffnen.
Da war ihm selbstredend schwer ums Herz, denn der junge Mann hatte sich
sein künftiges Leben als Kaufmann im Tessin vorgestellt, er wollte wie bereits sein Vater unter anderem mit Kunstobjekten
und mit Carrera – Marmor handeln .
Doch sein bester Freund Silvio, der heute aus Scham fehlte, hatte ihm vor zwei Monaten einen Strich durch die Rechnung
gemacht, unwiderruflich.
Als Francesco nämlich ein schönes Sümmchen Erspartes zurückforderte,( er hatte ein Jahr zuvor für Silvio
gebürgt, der wegen hoher Spielschulden in geschäftlichen Schwierigkeiten gesteckt hatte), hatte sich dieser urplötzlich
auf den Boden geworfen, war auf die Knie gegangen, hatte sich in einer dramatischen, eher von Süd-Italienern bekannten Geste
eine Pistole an die Schläfe gesetzt und ausgerufen: „Francesco, ich kapituliere!
Ich werde Dir Deine Lira nicht zurück geben können, niemals.“
Was sollte der junge Lombarde da machen?
Sollte er dem Selbstmord seines Freundes zusehen?
Stattdessen beschwichtigte er ihn, tröstete ihn, nährte Hoffnung und erklärte schweren Herzens auf sein Geld verzichten zu können.
Aber konnte er sich so hier in Lugano einen guten Start ins Geschäftsleben leisten, ein eigenes Büro, eine lichtdurchflutete Wohnung?
Eigentlich war ein vorherrschender Wesenszug von Francesco klares Denken und schnelle Entschlusskraft. Aber in dieser Lage?
Da war guter Rat teuer und sein Name wäre in dem eleganten Städtchen ruiniert, würde er bleiben.
Konnte er das seinen Eltern antun, deren Familie erst seit zwei Generationen die tristen
Mailänder Vorstädte verlassen hatte und dermaßen stolz war es im reichen und selbstbewussten
Lugano zu etwas gebracht zu haben ?
Es wurde überlegt und beratschlagt, das zog sich eine Weile hin. Francescos Vater hatte gewisse Handelsbeziehungen
zu einem Kaufmann in Amburgo, seit langen Zeiten schon Tor zur Welt und allmählich reifte die Idee mit diesem zu
korrespondieren und den Sohn in die ferne Großstadt schicken. Mochte er dort sein Glück versuchen, es war ja nicht ganz unwahrscheinlich, dass ihm tatsächlich irgendwann Erfolg beschieden war.
Francesco schmeckte das Bierra nicht mehr besonders, selbst der so geliebte Grappa
war wie bittere Arznei, denn er würde nicht nur seine geschätzte Familie und die großartigen
Freunde zurück lassen, sondern auch so manche Lebensgewohnheit und die geliebte Landschaft
mit Zitronenbäumen, Kastanienwäldern, Oleander-Büschen, Zypressen und dem See, auf dem er
ruderte, in dem er schwamm und angelte, an dessen Ufer er mit einer glutäugigen Schönheit gesessen
hatte, deren Eltern Freunde seiner waren.
Morgen würde eine Postkutsche gen Norden gehen, zwei Wochen würde er mit einigen Umstiegen unter Umständen unterwegs sein:
ein gleichermaßen strapaziöses wie abenteuerliches Reisen war das!
Sein Bündel war bereits gepackt und lag es am Grappa oder am Frühlingswind, dass ihm jetzt ein paar
Tränen rollten.? Er wusste es nicht.
Francesco also erreichte Hamburg, er machte sich mit Feuereifer daran die
deutsche Sprache noch perfekter zu erlernen.
Denn Lugano gehörte ja zur italienischen Schweiz, wo Deutsch zwar nie Amtssprache war, obwohl man es in dieser Region doch tagtäglich hörte.
Im übrigen stocken hier die Überlieferungen und Erzählungen über das Schicksal meines Urgroßvaters, man weiß nur, dass er etwa im Gebiet des
heutigen Stadtteiles Harvestehude seinen Wohnsitz nahm,
das muss um 1875 herum gewesen sein.
In diesem Bezirk, der zu Eimsbüttel gehörte, wurden ab 1813 die ersten Remisen und Häuser für Krämer, Kutscher und Handwerker gebaut und auch Francesco fand hier eine einfache Wohnstätte.
Ja, er versuchte sich als Kaufmann. Ob mit Erfolg von vornherein, das entzieht sich meiner Kenntnis.
„Er war Kaufmann! Aber Kaufmann in welcher Sparte, Händler wofür, welche Waren setzte er um?“ frage ich –brennend interessiert am Schicksal meines Urahnen.
Meine aus Hamburg-Wellingsbüttel stammende Cousine klärt mich darüber auf, dass man so nicht denken darf.
Die Kaufleute der damaligen Zeit dealten mit Waren, die die Schiffe so hergaben.
Hatte ein Schiff aus China zum Beispiel Seide, Tuch und Gewürze geladen, so wurde damit gehandelt. Gewürze, die ja auch auf dem Landweg über die Seidenstraße transportiert wurden, wurden nicht nur als Geschmacksverstärker, sondern für Arzneien, Aphrodisiaka und sogar Zaubertränke verwendet. Wenn ein Schiff aus Südamerika, welches Kakao , Kaffee und Zinn an Bord hatte,
gelöscht wurde, so waren es diese Waren, mit denen Geschäfte gemacht werden konnten.
Die chinesische Fracht mag es meinem Urgroßvater angetan haben und er
unterhielt auch Handelsbeziehungen in dieses Reich.
Ohne vorgreifen zu wollen, soll nicht verhehlt werden, dass einer seiner Söhne, Rudolpho hieß er, später oftmals per Schiff in das märchenhafte Land unterwegs war, in dem er allerdings an den Folgen einer Blutvergiftung verstarb.
Doch wie ging es weiter mit meinem Urgroßvater in Hamburg?
Der nächste Eckstein in seiner Biografie war die Begegnung mit einer Mamsell für feine Küche, die ihm bei einem Alster-Spaziergang über den
Weg lief. Wie durch eine höhere Macht fühlten Francesco B. und Dorothea
P. aus Brickeln in Dithmarschen sich zu einander hingezogen.
Sie war anders als die anderen jungen Frauen in der Stadt.
Sie hatte.. um es mit einem Wort zu sagen Grandezza.
Er mochte die Art, wie sie ging, wie sie sprach, wie sie dabei gestikulierte,
er mochte ihre Augenfarbe und die Grübchen in den Wangen und das ganz
Spezielle eben, was hundert andere Frauen nicht hatten.
Nach einigen Monaten war es für ihn völlig klar: Dorothea sollte seine Frau werden?
Da gab es nur ein Problem und das war die Konfession.
In der damaligen Zeit war eine Ehe zwischen einem Katholiken und einer
Protestantin eine große Hürde, wie sehr diese Hürde aber gelten würde
für eine seit Urzeiten römisch-katholische italienische Familie kann man sich wohl vorstellen.
Francesco musste mit dem Nein des Vaters leben, Nein hieß Nein und würde es bleiben.
Es war das zweite Drama in seinem jungen Leben, während die Geschäfte
inzwischen anfingen zu florieren. Aber darüber konnte er sich nur halbherzig freuen, solange sein großer Herzenswunsch keine Aussicht der
Erfüllung hatte.
Nachts lag er lange wach und grübelte, bis er es in einer Vollmondnacht nicht länger aushielt. Beim Schein der Petroleumlampe riss er die dünne
golddurchwirkte Abbildung der Kreuzigungs-Szene aus der Bibel und
schrieb mit zittrigen Fingern dazu auf ein Blatt Büttenpapier an seine Eltern
sinngemäß, dass er beim Namen des gekreuzigten Herrn Jesus niemals
im Leben eine andere Frau lieben würde als Dorothea P. aus Brickeln, dass
er nur mit dieser den Bund der Ehe schließen wolle.
Die Einwilligung mit den Auflagen sämtliche Kinder, die in dieser Ehe geboren würden, im römisch-katholischen Glauben zu erziehen und außerdem in Kürze mit seiner Frau in einen Vorort von Lugano zu ziehen
und dort eine Dependance zum väterlichen Geschäft zu errichten, kam zeitnah.
Das junge Paar siedelte sich dann in einem Dorf unweit von Lugano-Melide an. Doch es wurde dort nicht glücklich. So sehr Francesco seine Heimat,
den blühenden Oleander, die Kastanienwälder, den Duft der Pflanzen und den Duft der Zigarren-geschwängerten Luft in den Kaffeehäusern und Bars genoss, so sehr betrübte ihn die Traurigkeit seiner Frau, die dem allen nichts abgewinnen konnte. Für sie war das Leben in dem kleinen Vorort, der Tratsch der Leute, die Monotonie des Alltages kaum auszuhalten.
Sie hatte großes Heimweh nach Hamburg und nach den häufigen Besuchen bei ihren Eltern in Dithmarschen, nach den grünen Marschwiesen, der rauen Luft und der Freiheit, die sie dort empfand.
Nach der Geburt des ersten Kindes , der Tochter Francesca bekam sie
zunächst eine Wochenbettdepression. Doch diese wollte und wollte nicht weichen, Und alle Versuche ihrer Schwiegermutter mit Maronenglacé zum
Wildschwein-Braten oder Polenta oder Pasta-Gerichten ihr wieder Appetit
und Lebensfreude zu schenken, fruchteten nicht.
Da willigten die Eltern meines Urgroßvaters schweren Herzens ein, dass
junge Paar nun für immer in die freie Hansestadt Amburgo ziehen zu lassen, es war 1878 und begleiteten diese zum schnaubenden, russigen Dampfzug.
Jetzt fand die junge Familie eine angemessene Wohnung im Hamburger
Stadtteil Eilbek, wo nach und nach die Kinder Helvetia, Domenica, Rudolpho, Gaitano, Vittorina, Erminia und Angelo geboren wurden.
Angelo verstarb nach seiner Geburt und Rudolpho, wie wir bereits wissen,
in China. Auch Gaitano, ebenfalls Kaufmann, wurde nicht alt. Wie sein Bruder hatte auch er mit Schiffen die Welt bereist und war mehrerer Sprachen kundig. Er soll von heiterer Lebensart und ein sehr guter Witze- und Geschichtenerzähler gewesen sein; den Grappa verschmähte er durchaus nicht.
Mein Urgroßvater hatte später auch noch eine Cinzano – Vertretung, er führte mit seiner Dorothea eine glückliche Ehe, (so wie man eben in der damaligen Zeit mit solch einer Kinderschar glücklich sein konnte). Es war sein Beruf, in den er sich mit aller Energie stürzte, der sein Leben in erster Linie bestimmte. Und der die Basis und Sicherung für ein zufriedenes Familienleben darstellte, was mit hochherrschaftlicher Wohnung und sonntäglichen Besuchen im zoologischen Garten einher ging. Nur die Hamburger Winter – die mochte er nicht, bei Regen nicht und bei Schnee und Eis erst recht nicht, da war es an ihm Heimweh zu haben, Sehnsucht nach dem Tessin und seiner Geburtsstadt Lugano – bis in den März hinein- jedes Jahr!
Während seine Frau Dorothea mit den Töchtern auf der zugefrorenen Alster Schlittschuh lief, erklärte er den Söhnen die italienischen Komponisten Abbatini, Verdi und Vivaldi und sie durften als Jugendliche dann auch bei diesen Anlässen in seinem Herrenzimmer an der kubanischen Zigarre ziehen- immer Sonntags.
Leider hatte mein Urgroßvater nicht die Roßnatur der Kastanien seiner Heimat.
Bereits 1912 segnete er das Zeitliche in Hamburg; das Familiengrab befindet sich auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Sämtliche Töchter wurden sehr alt, meine Großmutter Erminia in Reinbek im Jahre 1986 sogar
fast einhundert. Doch das ist ein anderes Kapitel !
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Dieser Abriss eines Ausschnittes aus der Lebens – Biographie meines Urgroßvaters mütterlicherseits basiert auf mündlichen Überlieferungen,Briefen, Quellenforschungen
über Lugano, zweimaligen Reisen dorthin und auf Informationen aus
Brockhaus-Enzyklopädien und dem Worldwide Web.
Darüber hinaus spielte meine Phantasie mit hinein.
Und da wir bei der Schiffsladung aus China sind, möchte ich allerseits den
wunderbaren Bildband empfehlen:
CHINA von GIANNI GUADALUPI
Eine Entdeckungsreise vom Altertum bis ins 20. Jahrhundert,
Verlag Frederking & Thaler, GEO…
Renate Rave-Schneider, 19.01.2017
3 Gedanken zu „Warum sich mein Urgroßvater Francesco von Lugano aus nach Amburgo aufmachte…“
Großartige Geschichte!
Könnte man glatt ein Drehbuch zu schreiben und verfilmen.
Ahnenforschung trifft Fantasie in poetischer Form. Sicherlich jede Menge Arbeit, die jedoch sichtlich Spaß gemacht haben muss, denn so sehr strahlt die Kraft des Textes aus. Renate, Du hast mich mit auf die Reise genommen und an diesem regnerischen Winterabend auch ein Stück weit mit Sehnsucht auf erste warme Frühlingstage gefüllt. Sehr schön….
Liebe Renate, ich schließe mich den anderen Kommentaren an. Dein Großvater-Text ist wunderbar, sehr lebendig. Er hat mich inspiriert, auch über den mexikanischen Großvater meines Sohnes zu schreiben, ein Thema, an das ich mich früher nicht herangewagt habe. Ein schöner Effekt Deiner Homepage, Autoren und Interessierte anzuregen. Ich hoffe, dass meine Erzählung, an der ich noch arbeite, sich mit Deiner hervorragend formulierten Schilderung, die Bilder erweckt, messen kann. Danke, Renate Gruß Do